: Boomtown Hamburg 1906
Vor 100 Jahren ist der Hamburger Hauptbahnhof eröffnet worden. Zusammen mit weiteren Baudenkmälern aus diesen Jahr steht er für eine Zeit des wirtschaftlichen Aufbruchs und des nationalen Überschwangs. Im selben Jahr gab es hier auch den ersten politischen Generalstreik Deutschlands
von Gernot Knödler
Bevor der Hauptbahnhof am 6. Dezember 1906 eröffnet wurde, bot sich in Hamburg ein merkwürdiges Bild: Dampfloks schleppten die Züge im Schritttempo durch gepflasterte Wohnstraßen. Vorneweg ging zur Warnung ein Beamter und läutete mit der Handglocke.
Dem Senat der Handelsstadt mit ihren weltweiten Verbindungen wird das hochnotpeinlich gewesen sein. Umsomehr als die Stadt mit hoher Geschwindigkeit wuchs. Handel und Gewerbe blühten wie überall im Deutschen Reich. Es dürfte kein Zufall sein, dass im Eröffnungsjahr eine Reihe weiterer Projekte fertig gestellt oder in Angriff genommen wurden: die Hochbahn, das wuchtige Bismarck-Denkmal über den Landungsbrücken und auch ein Gewerkschaftshaus, in dem sich bis zu 8.000 Menschen versammeln konnten. Acht Jahre später endete der Überschwang im ersten Weltkrieg.
Die Geschwindigkeit, mit der Hamburg und andere deutsche Großstädte damals wuchsen, erinnert an das heutige China, etwa Hamburgs Partnerstadt Schanghai. Zwischen 1875 und 1905 wuchs die Bevölkerung um 251 Prozent von 265.000 auf 931.000 Einwohner. In der gleichen Zeit wuchs Bremen um 112 Prozent auf 217.000 Menschen. Hannover legte um 183 Prozent zu, Kiel um 468 Prozent auf 212.000 Einwohner – nur 90.000 weniger als Hannover.
In der Schifffahrt ging die Zeit der Segelschiffe zwar noch nicht zu Ende. Die Gewichte verschoben sich aber stark zu Gunsten des Dampfschiffs. Die Netto-Tonnage der Hamburger Segler wuchs von 150.000 im Jahr 1875 auf 272.000 im Jahr 1905. Die Dampfschiffe konnten 1875 brutto nur 84.000 Tonnen tragen. 1905 waren es 1,573 Millionen Tonnen.
Mit dem Wachstum des Handels und der Schifffahrt blühten die Werften, Kran- und Schiffsschrauben-Fabriken. In den Jahren 1905 bis 1909 gründete die Stettiner Großschiffswerft Vulcan ein Werk in Hamburg. Blohm+ Voss zog nach und erweiterte die eigene Werft bis 1912 um fünf Docks. 1912 lief im Hafen das größte Schiff der Welt vom Stapel, die „Imperator“. Sie löste die Titanic ab, die 39 Tage zuvor gesunken war. Beide Werften profitierten vom Flottenrüstungsprogramm, das den Weltmachtanspruch des Deutschen Reiches bekräftigen sollten.
Die neuen Fabriken und das starke Wachstum der Stadt ließen die Wohnviertel der Arbeiter und deren Arbeitsplätze auseinander wachsen. Zwar rollten schon seit 1866 von Pferden gezogene Straßenbahnen in Hamburg und seit 1893/94 die ersten elektrischen Straßenbahnen. Während in Berlin 1882 schon S-Bahnen fuhren und seit 1896 auch eine Hochbahn, fehlte in Hamburg ein Verkehrsmittel für lange Strecken.
Als erster Schritt wurde 1906 die erste S-Bahnlinie eröffnet. Im Dezember desselben Jahres begann die Arbeit an einer U- und Hochbahn mit einem symbolischen Spatenstich hinter dem Rathaus. Mehr als 3.000 Arbeiter, Architekten und Ingenieure bewegten Millionen Tonnen von Erdreich, Stahl und Beton. Sie bauten eine 18 Kilometer lange Ringlinie mit 23 Haltestellen, die noch immer in Betrieb ist.
Fünfeinhalb Kilometer Strecke wurden auf Viadukte gesetzt. Für sieben Kilometer schaufelten die Arbeiter in offenen Gruben Tunnel. Den größten Teil der Arbeit mussten sie von Hand verrichten: elf bis zwölf Stunden Hacken, Graben, Schaufeln und Schleppen, sechsmal die Woche, für 25 Reichsmark. Beim Graben halfen kleine Dampfbagger. Die Baugruben in der eng bebauten Innenstadt wurden mit den erst kurz zuvor erfundenen eisernen Spundwänden abgestützt, damit sie unter dem Druck der Häuser nicht einstürzten.
Die Hochbahn erhielt unter anderem eine Station an den St.Pauli-Landungsbrücken, dort, wo die Passagierdampfer in die weite Welt ablegten. In den Jahren 1906 bis 1910 ließ der Senat dort eine neue, 420 Meter lange Pontonbrücke ins Wasser legen. An Land wurde ein archaisch-monumentales Empfangsgebäude der Architekten Raabe & Wöhlecke errichtet. Ein Bau aus Naturquadern „in freien, an das Nordgermanische anklingenden Zierformen“, wie es damals hieß. Im selben Stil ist das benachbarte Eingangsgebäude des Alten Elbtunnels gehalten. Seine Kuppel überwölbt die Fahrstühle und Treppen hinab zur Tunnelröhre, in der die Arbeiter zu den Werften gelangten.
1906 waren es die Arbeiter so leid, bei den Wahlen zum Parlament des Stadtstaates benachteiligt zu werden, dass sie die SPD am 17. Januar zum ersten politischen Generalstreik in Deutschland aufrief. Die großen Erfolge der Sozialdemokraten bei den Wahlen machten der bürgerlich-konservativen Mehrheit in der Bürgerschaft und dem Senat Angst. Sie beschlossen ein Drei-Klassen-Wahlrecht einzuführen, um das politische Gewicht der Sozialdemokratie zu verringern. Bei dem Generalstreik legten Zehntausende die Arbeit nieder. Straßenschlachten mit der Polizei forderten Tote und Verletzte. Am Ende kam ein Zwei-Klassenwahlrecht heraus, das die Stimmenverhältnisse noch stärker verzerrte als das zunächst geplante.
Die Kraft der Arbeiterschaft als Klasse zeigte sich daran, dass im gleichen Jahr die im Jugendstil gehaltene Prachtfassade des Gewerkschaftshauses in der Nähe des Hauptbahnhofs fertig wurde. Der Arbeiterführer und Reichstagsabgeordnete August Bebel, der in Hamburg seinen Wahlkreis hatte, bezeichnete das Haus in seiner Eröffnungsrede als „geistige Waffenschmiede der deutschen Arbeiterbewegung“.
Der Zug des Fortschritts erreichte schließlich auch die Bahn. Nachdem zwanzigjährige Verhandlungen mit Preußen endlich zum Erfolg geführt hatten, konnte Hamburg aus vier Bahnhöfen einen machen. Bis 1906 hatte es vier Kopfbahnhöfe gegeben: den Klostertor-Bahnhof, den Berliner Bahnhof, den Hannoverschen oder Venloer und den Lübecker. Die vier Bahnhöfe waren nur notdürftig miteinander verbunden. Wer aus Bremen oder Köln anreiste, rollte mit dem D-Zug durch die Straßen bis zum Klostertorbahnhof.
In die Gestaltung des Hauptbahnhofs mischte sich Kaiser Wilhelm II. persönlich ein. Weil er die Jugendstilformen der Architekten Reinhardt & Süßenguth „einfach scheußlich“ fand, wurde die äußere Gestalt umgeplant. Die Grundform jedoch blieb: eine gewaltige von 73 Meter langen Stahlbögen überspannte Halle mit niedrigen Seitenschiffen. Die Halle, die von einem ähnlichen Bau der Pariser Weltausstellung von 1889 inspiriert war, galt damals als Muster moderner Zweckarchitektur.
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