: Begrenzte Vollmachten
In Venezuela werden die basisdemokratischen Rechte geradezu explosionsartig ausgeweitet – und die Medien nicht zensiert. Das war vor Hugo Chávez noch ganz anders
Die Schließung eines Fernsehsenders in Venezuela sei für das demokratische Lateinamerika ein Präzedenzfall, hat José Miguel Insulza, Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), kürzlich erklärt. Er liegt falsch. In Venezuela ist der letzte Fall keine 5 Jahre her. Am Abend des 12. April 2002 stürmten Polizisten den staatlichen TV-Kanal sowie kommunale Radio- und Fernsehkanäle, die von Pro-Chávez-Aktivisten betrieben wurden. Die Polizei schloss die Sender auf Befehl von Militärs und Oppositionspolitikern, die in der Nacht zuvor gegen Präsident Hugo Chávez geputscht hatten. Seinerzeit protestierte keine Zeitung und auch keine TV- und Radiostation gegen die Maßnahmen – nur ein einziger Chefredakteur äußerte sich kritisch.
Die Senderchefs hingegen unterstützten die Putschisten und untersagten ihren Mitarbeitern die Berichterstattung. Die Proteste gegen die Entmachtung von Chávez, die Verhaftungswelle gegen seine Minister, von all dem sollten die Bürger nichts erfahren. „Null Chávismus auf dem Bildschirm“ habe die Devise gelautet, so ein ehemaliger Redakteur des Fernsehsenders RCTV. Wäre der Putsch gegen Chávez nicht gescheitert – wer weiß, wie lange die verabredete Gleichschaltung noch gedauert hätte. Ein Aufarbeitung ihrer unsäglichen Rolle hat es in den venezolanischen Medien noch nicht mal ansatzweise gegeben.
Heute sieht RCTV-Präsident Marcel Granier eine „tropische Diktatur im Stile Somozas“ heraufziehen, weil die Konzession seines Senders nicht verlängert wird. Das ist nicht nur eine Heuchelei, sondern beleidigt auch die Opfer der wirklichen Diktaturen in Lateinamerika. Darf und sollte man Granier deshalb das Senden verbieten? Natürlich nicht.
Rechtsverstöße der Medien sollten Sache der Justiz sein, wie OAS-Chef Insulza zu Recht erklärt. Nur: Die Verhältnisse sind nicht so. Die Justiz in Venezuela ist schwach und allzu engagierte Rechtspfleger leben gefährlich. Den Staatsanwalt, der die Anklagen wegen des Putsches von 2002 leitete, riss im November 2004 eine Autobombe in Stücke.
Die Konzession für RCTV auslaufen zu lassen – das ist, in Ermangelung besserer Mittel, Chávez’ Weg, die putschfreundlichen Medien in die Schranken zu weisen. Er hat das vor den Wahlen im Dezember angekündigt – genauso wie seinen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ – und ist mit knapp 63 Prozent gewählt worden. Die anderen 37 Prozent dürfen ihn nach Herzenslust einen Diktator schimpfen. Vergangene Woche druckte die Traditionszeitung El Nacional neben dem Editorial eine Chávez-Karikatur mit Hakenkreuz auf der Brust. Und niemand wurde deshalb verhaftet oder umgebracht.
Vor Chávez war das anders. Es wurde gefoltert, auf Demonstranten geschossen, es gab desaparecidos (Vermisste). Dass im „demokratischen“ Lateinamerika der Neunziger rechtsstaatliche Verhältnisse geherrscht hätten, ist genauso eine Legende wie die Behauptung, unter Chávez seien an „die Stelle von institutionalisierten und reglementierten Prozessen (…) Cliquen- und Klientelbeziehungen“ getreten, wie Dietmar Dirmoser von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in der gestrigen taz vermeldet. Die FES-Zeitschrift La Nueva Sociedad, die Dirmoser seinerzeit herausgab, wusste es 1999 besser: Es waren die Korruption und Klüngelwirtschaft des Vorgänger-Regimes, die die Wähler dem Exoffizier Chávez zutrieben.
Zu den regierenden Kleptokraten gehörten nicht zuletzt die der SPD freundschaftlich verbundene sozialdemokratische Acción Democrática. Am 28. Februar 1989, drei Wochen nachdem Willy Brandt ihm zum Amtsantritt die Hand geschüttelt hatte, gab der sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez höchstpersönlich den Schießbefehl gegen einen Volksaufstand, der nach IWF-Anpassungsmaßnahmen ausgebrochen war. Die Unruhen hatten sich damals auch an einem Korruptionsskandal entzündet, bei dem sich auch die venezolanischen Sozialdemokraten die Taschen vollgestopft hatten.
Vorsichtig geschätzt starben 1.000 Menschen im Kugelhagel der Armee. Belangt wurde Pérez dafür nie. Gab es wenigstens bei uns einen empörten Aufschrei? Irgendetwas, das den vollmundigen Warnungen nahe kommt, die heute gegenüber Chávez ausgestoßen werden? Ach was! „Pérez muss seine Landsleute dazu erziehen, nicht mehr über ihre Verhältnisse zu leben“, schrieb der Spiegel damals. Das waren noch Zeiten. Heute wollen die Lateinamerikaner über ihre Verhältnisse leben und wählen Typen wie Chávez zum Präsidenten. Was wären wir ohne die Demokratie-Experten, die uns das als Weg zur Diktatur erklären?
Es ist schon eigenartig. Auf einem Kontinent, wo nur Trash über den Bildschirm flimmert, hat die venezolanische Regierung hunderte von Lizenzen für Bürgerfunk und -fernsehen vergeben. Ausgerechnet dieses Land soll auf dem Weg zur Mediendiktatur sein, weil es ab März einen Telenovela-Kanal weniger gibt? So eine Mediendiktatur hätte man hier auch gerne. Hugo Chávez entmachtet das Parlament? Nein, er beantragt beim Parlament begrenzte Vollmachten, um Gesetze zu dekretieren und eine Verfassungsreform zu erarbeiten. Spaniens Aznar hat in den letzten Monaten seiner Amtszeit fast nur noch per Dekret regiert. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn einen Diktator zu nennen.
Die angekündigten Verfassungsänderungen in Richtung Sozialismus werden in Venezuela selbstverständlich einem Volksreferendum überantwortet. Wenn sie den Bürgern nicht passen, können sie sie ablehnen. Hugo Chávez kombiniert seinen hemdsärmeligen Reformeifer nämlich mit einem ausgeprägten Hang zum Plebiszitären. Im Unterschied zu den Deutschen, die nicht über die europäische Verfassung abstimmen durften, wurde den Venezolanern unter Chávez nicht nur ihre neue Magna Charta zur Abstimmung vorgelegt. Zuvor konnten sie auch noch über die Zusammensetzung der verfassungsgebenden Versammlung entscheiden. Laut dieser Verfassung kann heute jeder gewählte Politiker nach der Hälfte seiner Amtszeit per Volksbegehren aus dem Amt gekegelt werden.
Jede öffentliche Institution muss ihre Bücher für die Bürger öffnen, wenn diese sich in entsprechenden Komitees organisieren. Auf Gemeindeebene können sogenannte kommunale Räte ihre eigenen Mittel verwalten. Die sogenannte bolivarische Revolution ist gekennzeichnet durch eine geradezu explosionsartige Ausweitung basisdemokratischer Rechte.
Dass diese Rechte oftmals nicht in Anspruch genommen werden, dass sie bei Gelegenheit von Parteifunktionären, Bürokraten oder lokalen Mafiosi vereinnahmt werden, dass es von Revolutionsopportunisten nur so wimmelt, die sich schnell ein rotes T-Shirt übergestreift haben – das ist unvermeidlich. Sonst wäre Venezuela das erste Land der Welt, in dem der Opportunismus ausstirbt und eine Korruptionskultur sich magisch in massenhafte Zivilcourage verwandelt, bloß weil ein Comandante die Revolution ausruft.
CHRISTOPH TWICKEL
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen