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Schrottbahnhof wackelt weiter

Nach erneuter Sturmwarnung wird der Hauptbahnhof zum zweiten Mal evakuiert. Aus Sorge vor einem Sturmtief halten Fernzüge, S- und U-Bahnen nicht mehr im Glasbau. Bahn weist Kritik zurück

VON PLUTONIA PLARRE UND MATTHIAS LOHRE

Der Mann konnte einem fast leid tun. Ein einsamer Bahn-Mitarbeiter musste gestern Nachmittag im Sprühregen vor dem Hauptbahnhof erboste und irritierte Reisende beruhigen: „Bitte nehmen Sie den Bahnersatzverkehr“, rief der Mann ins Megaphon. Denn in den Glaspalast kamen Bahnfahrende nicht mehr. Gestern Nachmittag schloss der erst vor einem halben Jahr eröffnete Prunkbau erneut.

Tausende Reisende mussten hoffen, ihre Züge an den Fernbahnhöfen Spandau, Gesundbrunnen, Ostbahnhof oder Südkreuz zu erwischen. Auch S-Bahnen fuhren den Hauptbahnhof nicht mehr an. Polizisten sperrten das Gebäude ab. Laut einer Bahnsprecherin wurden rund 1.500 Fahrgäste in Sicherheit gebracht. Am Nachmittag war nur der unterirdische und damit ungefährdete Bahnhofsbereich in Betrieb. Erreichbar war er nur über einen Zugang des künftigen U-Bahnhofs der U55 an der Invalidenstraße. Wie lange die Evakuierung andauert, war gestern Nachmittag unklar.

Bereits am Freitag war der Glasbau evakuiert und für rund 14 Stunden gesperrt worden. Beim Durchzug des Orkans „Kyrill“ war zuvor ein tonnenschwerer Stahlträger von der Außenfassade eines der 46 Meter hohen Bügeltürme auf eine Außentreppe gestürzt. Zwei weitere Bügel hatten sich gelöst, waren aber nicht hinuntergestürzt. Niemand war dabei verletzt worden. Ein gerichtlich bestellter Gutachter untersucht derzeit die Ursache für das Unglück. Die gestrige Sperrung wollte die Bahn auch nutzen, um an die mehr als hundert beweglich gelagerten Stahlelemente an der Außenfassade Bleche zu schweißen und sie so zu sichern. Sie sollen laut einem Bahnsprecher verhindern, dass Windböen erneut Stahlträger aushebeln.

Künftig wollen die Bahnverantwortlichen auf Nummer sicher gehen. Ab Windstärke 9 soll zumindest der oberirdische Gebäudeteil aus Sicherheitsgründen schließen. Dazu kam es schneller als gedacht: Nach Meldungen, dass das Sturmtief „Lanzelot“ auf die Hauptstadt zuhält, wurden die Bahnhofstüren geschlossen.

Die Bahn mühte sich gestern, das Imagedesaster in Grenzen zu halten. Ein Unternehmenssprecher wies einen Medienbericht zurück, wonach das Absturzrisiko der Fassadenteile bereits während Bau und Planung bekannt gewesen sei. Es habe keinerlei Bedenken bei der Baubehörde während Planung und Genehmigung gegeben. Auch während des Baus und bei der Abnahme des Riesenbaus sie davon nichts bekannt gewesen. Die Bahn habe ein Bauwerk übernommen, bei dem sie davon habe ausgehen müssen, dass es nach allen Regeln der Technik geplant, genehmigt, gebaut und abgenommen worden sei.

Die Gebäudesperrung kommt für die Bahn zu einem extrem schlechten Zeitpunkt. Erst Ende Mai 2006 hatte Europas größter und modernster Kreuzungsbahnhof nach acht Jahren Bauzeit seinen Betrieb aufgenommen.

Ende November 2006 bekam der Architekt des Baus, Meinhard von Gerkan, vor Gericht Recht gegen seinen Auftraggeber, die Bahn. Damals erklärte das Berliner Landgericht, das preisgünstigere, nachträglich eingeplante Flachdach im Untergeschoss müsse weg, der ursprüngliche Entwurf Gerkans solle her. Eine einmalige Entscheidung zugunsten eines Architekten.

Die frustrierten Reisenden zeigten gestern Einfallsreichtum, um an ihr Gepäck zu gelangen – doppelt weggesperrt in Schließfächern und im abgeriegelten Bahnhof. Ein Augsburger Arztehepaar versicherte einem Polizisten, in ihrem Gepäck befänden sich lebenswichtige Medikamente. Die Beamten hatten ein Einsehen. Bald verlangten viele Fahrgäste nach ihren „lebenswichtigen Medikamenten“.

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