: „Wir blickten auch nicht durch“
Der Verlagsmitbegründer Peter Gente verlässt den Merve-Verlag und siedelt nach Thailand über. Ein Rückblick auf die Zeit, als man die Wahl zwischen RAF und Spontis hatte, Diskurs ein böses Wort war und Blixa Bargeld im „Dschungel“ tanzen ging
INTERVIEW MATHIAS BROECKERS
taz: Das erste Buch von Peter Gente, das mir als Student 1973/74 in die Hände fiel, war eine Anthologie, vom Fischer-Verlag und nicht von Merve verlegt.
Peter Gente: Ja, das war „Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol“, 1970 erschienen. Der erste Band hatte vor allem die Sachen von Wilhelm Reich, und der zweite versammelte dann die neueren Texten von Peter Brückner oder Herbert Marcuse.
In dieser Zeit habt ihr auch das Verlagskollektiv gegründet und die Erweiterung des klassischen Marxismus gewissermaßen zum Programm gemacht.
Wir waren eine Berliner Wohngemeinschaft und politisch eher am Pariser Mai 68 und an der Bewegung in Frankreich insgesamt orientiert, die ja etwas anders verlief als hier. Nämlich weniger dogmatisch und weniger auf Studenten fixiert. In Frankreich und vor allem auch in Italien waren die Arbeiter viel stärker integriert. Und da guckten wir hin, denn uns ging es immer um neue Lebens- und Verkehrsformen. Deshalb haben wir dann auch im Verlag die Trennung von Hand- und Kopfarbeit aufgehoben. Jeder musste drucken lernen. Auch meine Partnerin Heidi Paris musste, nachdem wir uns 1975 kennengelernt hatten, noch drucken lernen.
Mit dem Bruch, den der deutsche Herbst 1977 darstellte, änderte sich dann auch der Verlagsname in „Merve“; mit „Internationale Marxistische Diskussion“ war es vorbei.
Ja, die war gegessen. Wir hatten es ja nicht so mit den Terroristen. Spontis und Leute wie Fritz Teufel waren uns näher als Typen wie Horst Mahler.
In dieser Zeit habt ihr Theoretiker entdeckt, die in Deutschland noch niemand kannte – Foucault, Baudrillard, Deleuze, Guattari – und die mit Begriffen und einer Sprache operierten, bei denen die Leser erst mal nicht durchblickten. Mir ging es jedenfalls so.
Wir blickten auch nicht durch. Wir hatten ja etwas ganz anderes gelernt – Marxismus, kritische Theorie –, und diese Autoren setzten das zwar irgendwie fort, doch sie lösten sich auch davon und setzten andere Bezugsrahmen. Marx und Freud oder die Familie ließen sie, wie Deleuze/Guattaris im „Anti-Ödipus“, hinter sich, und das interessierte uns.
Es wurden ganz neue Begrifflichkeiten entwickelt. „Rhizom“, „Wunschmaschine“ …
… und das Monster „Deterritorialisierung“.
Oh ja. Ich erinnere mich noch an die bösen Kommentare der Redaktionskollegen, wenn ich Anfang der 80er-Jahre auf der Kulturseite der taz mal wieder einen Vorabdruck von euch gebracht hatte.
Das war eben viele Jahre bevor die großen Verlage und das Feuilleton das alles entdeckten. Als ein alter Freund von uns, Dietrich Kuhlbrodt aus Hamburg, einmal dem Kulturchef der Frankfurter Rundschau, Wolfram Schütte, mit dem Baudrillard-Band „Kool Killer“ unterm Arm begegnete, wurde der ganz blass und sauer: „So was liest du?“ Fünf Jahre später war die Rundschau dann ganz stolz, wenn sie einen Baudrillard oder Virilio drucken konnte. Aber anfangs galt das für die klassischen Linken als „neuer Irrationalismus“, und Kritiker wie Lothar Baier oder Manfred Frank warfen uns vor, dass wir Begriffe wie Diskurs benutzen. Heute sind die völlig selbstverständlich – bis hin zur CDU und Merkel. Schön fand ich, dass Dietmar Dath in seinem Nachruf auf Heidi Paris in der FAZ schrieb, dass Merve dieses Wort eingeführt hätte und uns eigentlich das Copyright für Diskurs gebührte.
Als aus der „Internationalen Marxistischen Diskussion“ der „Internationale Merve Diskurs“ wurde – seid ihr da mit diesem neuen Denken einfach ins kalte Wasser gesprungen ?
Was man nicht verstand, hat uns erst mal fasziniert – und der Wahnsinn, den Foucault und Deleuze/Guattari beschrieben, der lag in der Luft, die Wirklichkeit war ja auch nicht mehr so ganz klar. Deshalb konnten wir mit diesen Theorien auch arbeiten, als das Kollektiv langsam den Bach runterging und man selber am Durchdrehen war. Foucault und Deleuze waren da einfach nahe liegend und haben uns auf Trab gebracht, auch weil sie immer irgendwo handlungsorientiert waren. „Du musst theoretisch nicht zu Adam und Eva zurück, fang an, geh mitten rein, und je mehr du dich damit beschäftigst, desto besser findest du dich zurecht“, sagte Deleuze immer. Das haben wir versucht.
Mit viel Erfolg, wenn man auf die fast dreihundert Merve-Bände schaut – und doch habt ihr euch auch immer an eine andere Deleuze-Parole gehalten: an das Minoritärwerden, an ein Schreiben, das wie eine Maus sein Loch buddelt. Die intellektuelle Kapazität, die bei Merve versammelt ist, überragt fast jeden Großverlag – aber ihr seid seit 30 Jahren auf derselben Fabriketage geblieben und habt einfach weiter eure kleinen Bücher gemacht.
Wir konnten das alles nur machen, weil wir arm waren. So hochkarätige Figuren haben als Autoren nur zwei Möglichkeiten: Entweder verkaufen sie sich ganz teuer – oder sie verschenken ihre Texte. Wir haben sie umsonst gekriegt, zumindest am Anfang – und auch noch, als alle hinter Foucault her waren und er von seiner dreibändigen Geschichte über „Sexualität und Wahnsinn“ in den USA 200.000 Stück verkauft hat.
Neben solchen theoretischen Texten habt ihr viele Bücher zu Kunst und Musik gemacht, von den „Genialen Dilletanten“ über „Tödliche Doris“ bis hin zu Martin Kippenberger und Thomas Kapielski. Wie kam es zu dieser Mischung?
Als Heidi und ich uns kennenlernten, gingen wir fast jeden Abend in den „Dschungel“ oder ins „Risiko“ – wir kannten diese Leute aus der Musikszene, bevor die richtig Musik machten. Erst zehn Jahre später machten wir zum Beispiel mit Blixa Bargeld und den Einstürzenden Neubauten ein Buch. Als wir den Kippenberger machten, kannte den noch kein Mensch. Die Bücher entstanden also aus unserem Umfeld. Wir arbeiteten den ganzen Tag an diesen anstrengenden Theoriebüchern, und wenn wir dann abends um elf Uhr unter der Decke hingen und unser Verständnishorizont endgültig überschritten war, gingen wir in den „Dschungel“, um wieder runterzukommen. Wir hatten aber keine Berater, die uns dringend irgendwelche Titel empfahlen, die sind immer auf unserem eigenen Mist gewachsen. Wir haben gesammelt, Interviews, Zeitungsausschnitte, einfach Material, und irgendwann ist dann daraus ein Buch entstanden.
Die meisten Merve-Bücher werden heute in Museumsshops und Kunstbuchhandlungen verkauft. Was war in den bisher 37 Jahren der Verlagsgeschichte der am meisten verkaufte Band?
Der Renner ist nach wie vor „Rhizom“ von Deleuze/Guattari. Vor zwei Jahren war er noch unserer meistverkauftes Buch überhaupt, obwohl schon vor 25 Jahren erschienen. Und auf Platz zwei sind ihre „Tausend Plateau“.
Das war 1992 das erste Hardcover der Merve-Bibliothek und ein großes Risiko.
Ja, aber es ist gut gelaufen, und es läuft auch immer noch gut. Durch Negri/Hardts „Empire“ gab es noch mal einen Nachklapp. „Empire“ wurde zwar rauf- und runtergelobt, aber es steht leider gar nichts drin. Leider, weil wir vor über 30 Jahren die Ersten waren, die Negri außerhalb Italiens publiziert haben. Später landete er dann bei Thomas Schmid von Wagenbach.
Der gerade als Chefredakteur bei Springers Welt gelandet ist.
Ja, das ist toll. Ende der 70er war er noch schwer linksdogmatisch und warf Merve vor, dass wir immer heiße Kartoffeln aus dem Feuer holen und Moden kreieren und uns dann nicht mehr damit beschäftigen würden.
Man sieht, wo das endet. Hier stehen die Umzugskisten gepackt. Dein Archiv wurde vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe aufgekauft und sichert zumindest eine Rente.
Die allerdings in Deutschland nicht reichen würde. Deshalb ziehe ich Mitte Februar nach Thailand. Nach 50 Jahren Berlin und 37 Jahren Verlag habe ich alles, was hier lief, in vollen Zügen genossen – Kunst, Kultur, Musik, die ganze Szene. Was zurzeit läuft, ödet mich ein bisschen an. Ich bin sehr verwöhnt, vor allem durch die einmalig schöne Zeit mit Heidi, die anstrengend und schwierig war, aber die zu etwas führte, den Büchern, die unser Leben waren. Als Heidi mit ihrer Schizophrenie nicht mehr klarkam und sich das Leben genommen hat, konnte ich keinen Neuanfang mehr machen. Ich musste eine Nachfolge organisieren. Wenn es den Verlag weiter geben sollte, musste ich raus, den Absprung finden. Das ist gelungen und ich bin, wenn ich die dreihundert Bücher hier sehe, zufrieden. Ich glaube, ich hab’ mein Ding gemacht.
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