: Auf sie mit Gebrüll
OPPOSITION Die Zurückhaltung ist vorbei. SPD und Grüne poltern gegen schwarz-gelben Atomkurs. Nur die Linke hält sich zurück
GREGOR GYSI, FRAKTIONSCHEF DER LINKSPARTEI
VON MATTHIAS LOHRE, GORDON REPINSKI UND PAUL WRUSCH
Sigmar Gabriel ist nicht bekannt als Mann nachdenklicher Worte, aber in den ersten Tagen nach der Katastrophe erschien dem SPD-Parteichef ein pietätvoller Ton wohl doch ganz angemessen: Er finde es falsch, das Leid der Japaner jetzt als Erstes für einen innenpolitischen Streit über die Atomenergie in Deutschland zu instrumentalisieren, sagte er. Innehalten war angesagt.
Spätestens am Tag 5 nach der Katastrophe ist es damit in der Opposition vorbei. Aus allen Rohren wird auf die Bundesregierung gefeuert, die SPD nennt sie „Wendehälse“, die Grünen reden von Wählertäuschung. Am Mittwoch wird deutlich, dass die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz näher rücken.
Ziel der Attacken der Opposition ist in erster Linie das Moratorium, mit dem die jüngst beschlossene Verlängerung der Restlaufzeiten der Atomkraftwerke in Deutschland ausgesetzt werden soll. Sieben Kraftwerke will Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nun abschalten, eines davon dauerhaft, die anderen für drei Monate. Doch das genügt der Opposition nicht. Sie fordert eine Parlamentsentscheidung – und unterstellt der Bundesregierung Wahltaktik.
SPD: „Eine Missachtung des Parlaments“
Die Speerspitze der Kritiker bildet SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann: Die Entscheidung ohne den Bundestag herbeizuführen sei „eine Missachtung des Parlaments“, die Bundesregierung sei „bis vor drei Tagen kräftigste politische Lobby für Atomkraft“ gewesen, das Moratorium „nicht glaubwürdig“. Merkel operiere „außerhalb der Verfassung“, die Verlängerung der Laufzeiten sei schließlich „der größte Fehler des politischen Lebens“ der Beteiligten gewesen.
Schon am Vortag hatte Parteichef Gabriel gesagt, er befürchte, dass hinter dem Moratorium ein neuer „Deal“ zwischen Energiekonzernen und Politik steckt.
So forsch geben sich auch die Grünen. Fraktionschef Jürgen Trittin geißelt die zeitweise Abschaltung der Atomkraftwerke als Wählertäuschung. „Schwarz-Gelb will sich bloß mit einem Trick über die Landtagswahlen retten“ (siehe Interview). Bereits am vergangenen Sonntag polterte Parteichefin Claudia Roth in einem Interview mit Spiegel Online: „Wie Röttgen und Westerwelle zwar in Bezug auf Japan Besorgnis bekunden, aber hierzulande das Nachdenken untersagen wollen, das geht nun gar nicht.“ Dem Umweltminister warf sie vor, die Gefährdung deutscher Atomkraftwerke zu leugnen: „Das ist eine zynische und unmoralische Politik.“ Noch einen Tag zuvor klang das anders: Da mahnte ihr Kollege an der Parteispitze Cem Özdemir, keinen tagespolitischen Profit aus dem Unglück zu schlagen.
An der nun eisenharten Haltung der Grünen findet zumindest Außen- und Rechtspolitiker Hans-Christian Ströbele nichts auszusetzen: „Wenn jemand ein Gesetz fordert, heißt das ja nicht, dass man die Abschaltung nicht begrüßt“, sagte Ströbele. „Aber wir brauchen eine Rechtsgrundlage. Sonst sind wir abhängig von der Kooperation der Konzerne.“
Auch die Frage, ob das Unglück nun doch in den Landtagswahlen eine Rolle spielt, treibt die Parteien um. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse stellt sich klar auf die Seite der Attackierer: „Wenn die Bundesregierung schon eine Kertwende macht, dann muss es eine konsequente und nicht eine vorgetäuschte sein“. Dies solle auch im Wahlkampf thematisiert werden: „Dass man ein Thema, das die Bevölkerung so bewegt, nicht aus dem Wahlkampf heraushalten kann, ist selbstverständlich“, sagt Thierse.
Einzig die Linkspartei hält sich mit Angriffen auf die Regierung derzeit zurück. Fraktionschef Gregor Gysi gab sich vor Journalisten am Mittwoch demonstrativ grüblerisch. „Politiker müssen Situationen erkennen, in denen Taktieren nicht mehr erlaubt ist. Da ist es auch mal egal, wie Landtagswahlen ausgehen“, sagte er. Das Moratorium bezeichnete er lediglich als „juristisch weit hergeholt“.
Linkspartei: Verzicht auf Atomkraft ins Grundgesetz
Gysis Partei fordert, nach dem Vorbild Österreich den Verzicht auf Atomkraft ins Grundgesetz aufzunehmen. „Es findet derzeit ein Zivilisationsbruch statt, der das Ende des atomaren Zeitalters einleitet“, sagte er. Der endgültige Ausstieg aus der Kernkraft müsse unumkehrbar festgesetzt werden. Dafür sei eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag notwendig. „Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit dafür?“, so Gysi.
Dann kam der Taktiker Gysi aber doch noch hervor: Von Kanzlerin Merkel forderte er Mut und Souveränität, „indem sie jetzt selbst für einen dauerhaften Ausstieg aus der Kernkraft sorgt“. Andernfalls werde ihre Kanzlerschaft wohl vorzeitig enden.
Da war er dann doch noch, der gerissene Gysi. Offen oder versteckt: Japan ist mitten im deutschen Landtagswahlkampf angekommen.
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