: Die verlorenen Söhne
Kann man Rechtsradikale in eine demokratische Gemeinschaft integrieren? Der Prozess um die Verbrennung des „Tagebuchs der Anne Frank“ im sachsen-anhaltischen Pretzien dokumentiert das Scheitern eines wohlgemeinten Versuchs
AUS MAGDEBURG ASTRID GEISLER
Der Versuch war so gut gemeint. Er sollte den Frieden sichern im Dorf, das Treiben der Neonazis stoppen, den guten Ruf der Gemeinde retten. Und, ja, es wurde auch ruhig in Pretzien. „Im Nachhinein betrachtet“, sagt Friedrich Harwig mit kehliger Stimme, „war das wohl eine trügerische Ruhe.“
Schwierig, aber fleißig
Es muss ein bitterer Moment sein für den Bürgermeister. Er ist geladen, im großen Saal des Magdeburger Landgerichts das Ergebnis eines sozialen Experiments zu Protokoll zu geben. Keiner kann das besser als er, der den Versuch startete, die Rechtsradikalen ins Dorfleben zu integrieren. Mit beiden Händen hält er sich an den Seiten des Zeugentischs fest. Keinen Blick schenkt er den sieben jungen Männern, um die es geht. Vor einem Jahr waren die noch seine „Jungs“ gewesen. Schwierige „Jungs“ wohl, aber auch fleißig und willens zuzupacken. Friedrich Harwig hoffte, als erfahrener Bürgermeister könne er sie bändigen.
„Rückblickend, Herr Harwig, würden Sie sagen: Das war naiv?“, fragt der Richter. Der grauhaarige Herr mit dem breiten, silbrigen Schnauzbart atmet tief: „Durchaus, ja. Ansätze von Naivität“, sagt er dann leise. „Aber ich würde es wieder versuchen. Nur besser. Was wäre das sonst für ein Leben? Ich habe mein Leben lang mit Menschen gearbeitet, um sie nach meinem Willen zu formen.“ Pathetisch klingen diese Sätze, aber so sind sie wohl nicht gemeint. Der Amtsrichter lächelt freundlich. „Man kann ja auch mit dem besten Willen das Falsche tun, Herr Harwig.“
Acht Monate ringt das 900-Seelen-Dorf Pretzien inzwischen mit den Nachwirkungen jenes verhängnisvollen Abends, der just das brachte, was der Bürgermeister hatte verhindern wollen: Unruhe, Unfrieden, negative Schlagzeilen. Sogar ein japanisches Fernsehteam hat über den ersten Prozesstag berichtet. Es waren acht harte Monate für den früheren NVA-Offizier Harwig, die PDS warf ihn raus, er kämpfte um seine Ehre als Bürgermeister. Tiefe Furchen ziehen sich über seine Stirn. Der Fall grub auch neue Gräben in der kleinen Gemeinde. „Abgründe“, wie eine Zeugin sagt.
Am 24. Juni 2006 hatte der örtliche Heimatbund Ostelbien e. V zum Sonnenwendfest auf der Pretziener Dorfwiese geladen. Rund 70 Gäste kamen. Es war ein fröhlicher Abend, man tanzte, trank Bier und Schnäpse und scharte sich nach Einbruch der Dunkelheit um einen Holzstoß. Dann zeigte sich, was die Integrationsbemühungen gebracht hatten. Die „Jungs“ zelebrierten vor aller Augen eine Zeremonie wie aus dem NS-Lehrbuch. Drei entzündeten mit Fackeln das Holz, drei rezitierten Feuersprüche. „Flamme zum Himmel, du leuchtende Glut, Funken, sprühe in deutsches Blut!“
Friedrich Harwig kennt viele der Angeklagten seit ihrer Kindheit, nun ist er der wichtigste Belastungszeuge. Jeden Satz, jeden Handgriff der Zeremonie schildert er dem Gericht, so gut es seine Erinnerung hergibt. Wie Sebastian K. die Gäste aufrief, „artfremde“ Gegenstände ins Feuer zu werfen. Wie Marc P. eine Tüte mit einer US-Flagge in die Flammen warf. Wie Lars K. nach vorn stolperte. „Trau dich!“, hörte der Bürgermeister jemanden rufen. Und Lars K. traute sich. Er hielt ein Buch in die Luft. „Ich übergebe das ‚Tagebuch der Anne Frank‘ dem Feuer“, soll er gesagt haben. Und dass die Geschichte erlogen sei.
Den Nazis ins Gewissen geredet
Die Frage ist, warum niemand dieses Unheil kommen sah und keiner es verhinderte. Denn der Heimatbund Ostelbien e. V. war erst vor etwa sechs Jahren aus einer Skinhead-Kameradschaft hervorgegangen. Diese Wandlung ist wohl auch dem Bürgermeister zu verdanken. Er hatte den Neonazis ins Gewissen geredet. Und sein Appell kam an. „Die Jungs“ sahen ein, dass ihr Auftreten ihnen schadete. Fortan bemühten sie sich um einen besseren Ruf. Sie boten an, die Dorfchronik weiterzuführen. Sie halfen beim Dorffest mit, und bei der Jahrhundertflut sorgten sie mit ihrer Muskelkraft dafür, dass die Elbe den Ort nicht verschluckte. Der Einfluss des Heimatbundes im Ort wuchs – und auch sein Ansehen. Kurz vor der Sonnenwendfeier traten einige ältere Pretziener dem Verein bei, darunter der Bürgermeister und die Ordnungsamtsmitarbeiterin Silvia F. Sie versichert heute: „Ich hatte keine Hinweise, damit einer Vereinigung anzugehören, die nicht im rechtsstaatlichen Sinne handelt.“ Doch der Heimatbund war bis zuletzt kein gewöhnlicher Vergnügungsverein.
Dafür gibt es Beweise, viele sogar. Die Polizei hat sie bei ihren Razzien gefunden. Staatsanwalt Arnold Murra trägt sie zu jeder Sitzung zwischen rosa Aktendeckeln in den Saal. Aus Sicht der Ermittlungsbehörde belegen sie, dass die Angeklagten ihr rechtsextremes Gedankengut weiter pflegten. Es muss Pretziener geben, die diese Zeichen sahen und hörten. Aber das hatte keine Folgen. Es war ja ruhig im Dorf.
Christian S., 28, Vorsitzender des Heimatbundes, stand für den neuen Kurs der früheren Skinhead-Gruppe, viele im Ort vertrauten ihm, auch der Bürgermeister. Der Gas- und Elektroinstallateur war bereits in der Neonazi-Kameradschaft aktiv gewesen, trat dann aus der NPD aus, schaffte es sogar in den Gemeinderat. Just während des Sonnenwendfestes war er verreist. Er ist der erste Zeuge in dem Prozess, selbstbewusst tritt er auf.
Die „privaten“ Einstellungen seiner Kumpels hätten ihn „nicht interessiert“, sagt S. „In meiner Gegenwart haben sie immer ein korrektes Verhalten an den Tag gelegt.“ Wirklich?
Staatsanwalt Murra scheint das zu bezweifeln. Er hält dem jungen Mann in hellbraunem Cordsakko und Jeans vor, was die Polizei entdeckte. Müsste der Handwerker das alles nicht gesehen haben? Eine Landkarte von Deutschland in den Grenzen von 1939 in der Wohnung eines Angeklagten? „Nein“, sagt S. knapp. Das Buch „Mein Kampf“ im Regal? „Nein.“ Ein Gau-Dreieck? „Nein.“ Ein T-Shirt mit der Aufschrift „Nationaler Widerstand 88“? „Ist mir nicht bekannt.“ Für was die 88 stehe? „Kann ich nicht sagen.“ Für Heil Hitler? „Möglich.“
„Was ist daran schlimm?“
Die Ermittler sicherten auch Dokumente, die den Wandel der Kameradschaft zum eingetragenen Verein dokumentieren. Eines der Papiere ist unterzeichnet mit „deutschem GruSS“. SS-Runen fand die Polizei auch auf einer Geldkassette der Clique. Laut einem anderen Papier, das der Staatsanwalt zitiert, wollte die Gruppe für „VVH“ eintreten – für „Volk, Vaterland, Heimat“. Was S. von diesen NPD-Schlagworten halte, will der Jurist wissen. „Meiner Heimat bin ich ganz klar immer noch verbunden“, erwidert S. „Was ist daran so schlimm?“
Auch Bürgermeister Hartwig versichert, ihm sei die Gruppe nicht mehr mit „rechten Parolen“ aufgefallen. Abgesehen von „dem schlimmen Vorfall“ habe es seit der Vereinsgründung keine Störungen im Ort mehr gegeben.
Doch getuschelt wurde in Pretzien immer über den Heimatbund. Dessen wachsender Einfluss war einigen nicht geheuer. Die Sonnenwendfeier und ihre Folgen haben aus der unterschwelligen Kontroverse einen offenen Streit werden lassen. Denn die entscheidende Frage stellt sich auch heute: Wie umgehen mit den Rechtsradikalen?
Sechs der sieben Angeklagten leben weiterhin im Dorf, genau wie ihr langjähriger Fürsprecher Christian S., Gartenzaun an Gartenzaun mit jenen, die seinen Heimatbund immer dubios fanden. Die eine Seite findet, man könne Christian S. nicht mehr vertrauen, die andere Seite hält das für ungerecht. Die Zeugin Silvia S., 49, wirkt verstört. Die Mitarbeiterin des Ordnungsamts war im letzten Frühjahr dem Heimatbund beigetreten und hatte die Sonnenwendfeier schließlich abgebrochen. Noch am selben Abend habe ihr ein ehemaliger Kollege vor die Füße gespuckt, erzählt sie dem Richter. Bis heute schlage ihr „Misstrauen“ entgegen. „Der dörfliche Zusammenhalt ist weg.“
Hinten im Zuschauerraum sitzt Andreas Holtz. „Hingucken!“ steht auf einem pinkfarbenen Button an seiner Jacke. Der evangelische Pfarrer von Pretzien hat sich seit der Bücherverbrennung viele Feinde gemacht im Dorf. Öffentlich prangerte er das Verhalten des Bürgermeisters an, er kritisierte, dass die Gemeinde zu viel vertusche, sich nicht klar genug von den Neonazis distanziere. Holtz fürchtet, dass die Rechtsextremen nach wie vor um ihren Einfluss in Pretzien kämpfen. Und er versteht jene, denen das Angst macht.
Viele wagen inzwischen nicht mehr, öffentlich Kritik am Bürgermeister oder am Ex-Heimatbund-Chef Christian S. zu äußern. „Lasst doch die Nazis, so schlimm war die Sache doch nicht“, das sei die „allgemeine Meinung“, berichtet einer, der seinen Namen nicht mehr gedruckt lesen will. Er glaubt, dass er „den Mund halten soll“. Er spricht von „Druck“, der ausgeübt werde im Dorf. Diese „netten Jungs“ aus dem Heimatbund wüssten, wo die Kritiker wohnten, sagt er. Und er weiß, dass der Angeklagte David K. vorbestraft ist – wegen Brandstiftung. Ob die „Jungs“ ebenfalls solchem Druck im Ort ausgesetzt seien? „Nein“, sagt der Mann bitter. „Die fühlen sich wohl.“
Das zeigen sie sogar im Gericht. Während die Verteidiger an der Richterbank eine Skizze des Tatorts einsehen, stecken die Männer die Köpfe zusammen. Sie scherzen, grinsen. Das Dorf ringt mit dem Fall, es droht zu zerfallen. Die Clique der Angeklagten offensichtlich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen