: Das altmodische Treffen
Was ist vom Traum geblieben, eine linke Gegenöffentlichkeit aufzubauen? Geht alles nur noch über das Internet?
VON MATTHIAS LOHRE
In den 70er-Jahren war alles noch einfach. Der Feind stand rechts, hieß wahlweise „Springer-Verlag“ oder schlicht „das System“ und gehörte bekämpft. Gegen seine erdrückende Meinungsmacht halfen eilig zusammengeschriebene Broschüren und erste regelmäßige Veröffentlichungen. Gegenöffentlichkeit eben.
Menschen sollten anderen Menschen direkt berichten, ungefiltert durch Journalisten und andere Kontrolleure. Eine Alternative zu bürgerlichen, staatstragenden Medien. In dieser Zeit ohne privates Fernsehen und Radio, lange vor Internetseiten und Weblogs, entstand die taz. Knapp 30 Jahre später sind viele alte Gewissheiten verlorengegangen. Die Frage stellt sich heute mit neuer Dringlichkeit: Was ist Gegenöffentlichkeit, und was kann sie bewirken?
„Das Wort ‚Gegenöffentlichkeit‘ allein erklärt heute nichts mehr“, urteilt der Bremer Historiker und Politologe Christoph Spehr. „Seit den 80er-Jahren ist die Grenze zur etablierten Öffentlichkeit immer durchlässiger geworden. Informationen und Themen der sozialen Bewegungen haben hier Gehör gefunden.“ Der Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung klingt bei diesen Worten nicht sonderlich euphorisch. Denn so positiv diese Entwicklung auch wirkt, für ihn ist das nicht automatisch ein Erfolg. „Gerade die ständige Einbindung von Gegenöffentlichkeit und Subkultur hat geholfen, die herrschende Öffentlichkeit zu stabilisieren.“
Augenfälligstes Beispiel: die Debatte über Für und Wider der Gentechnik. Aus der Niederlage der Stromkonzerne im Kampf um den Atomausstieg haben die Industrievertreter laut Spehr gelernt. Heute inszenieren sie einen kritischen Dialog, um nach dem Austausch aller Argumente sagen zu können: „Wir haben alles diskutiert, jetzt ziehen wir unser Vorhaben durch.“ Stärken Medien wie die taz heute also unfreiwillig den Status quo, den sie kritisieren?
Ihre Leser sehen das nicht so. Ende 2006 ergab eine Umfrage des Instituts für Kommunikationswissenschaft an der Uni Münster: Bis heute gilt die taz ihren Lesern als Medium der Gegenöffentlichkeit. 72 Prozent der Befragten erklärten, die Zeitung informiere über in anderen Medien Verschwiegenes oder Vernachlässigtes. Dreizehn Jahre zuvor war es nur ein Prozentpunkt mehr.
In diesem Bild schwingt bis heute vieles nach, was 1979 zur Gründung der taz führte. Das Medium Zeitung war die publizistische Waffe im Kampf um Gehör. Das änderte sich langsam erst mit dem Internet. 1981 etwa rief Wau Holland in der taz zur Gründung des Chaos Computer Clubs auf. Damit war das Net offiziell in Deutschland angekommen. Aber erst mit dem World Wide Web Mitte der 90er wurde es für News handhabbar. Hat das Internet wirklich das Verständnis und die Möglichkeiten von Gegenöffentlichkeit radikal verändert? Seiten wie indymedia.org verbinden politisch Interessierte über Kontinente und Sprachgrenzen hinweg. Hier berichten Aktivisten über Gewerkschaftsproteste gegen McDonald’s in Atlanta ebenso wie über die Räumung eines besetzten Hauses im französischen Dijon oder über Proteste gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm. Ähnliches leisten auch LabourNet.de und Antifa.de. Oder in den USA guerillanews.com sowie Nachhaltigkeitsseiten wie worldchanging.com.
Eines der Hauptprobleme dieser Websites: Man weiß nie, was man verpasst. Ungezählte Links weisen auf weitere Projekte und Initiativen. Viele Seiten beschränken sich ob der Informationsflut auf klar definierbare Themen: Widerstand gegen die Castor-Transporte ins niedersächsische Wendland (X-tausendmalquer.de) oder das geplante Bombodrom in Brandenburg (FreieHeide.de). Doch der Überblick ist verlorengegangen. Das liegt auch an den Blogs.
Deren Zahl nimmt schneller zu, als Leser lernen, was hinter der Wortschöpfung aus Web und Log, aus Internet und Tagebuch, eigentlich steckt. Weltweit soll es heute mehr als 50 Millionen Netztagebücher geben – mehr als hundertmal so viel wie 2003. Doch der publizistische Nutzen der schätzungsweise 60.000 bis 300.000 Blogs aus Deutschland ist umstritten.
Denn lassen Indymedia und Blogs wirklich den alten Traum der sowjetischen Avantgarde der 1920er-Jahre wahr werden, werden Macher und Publikum im Internet wirklich eins? So einfach ist es nicht. Schon vor sechs Jahren stöhnte der Soziologe und Internetjournalist Gottfried Oy: „Diese vielbeschworene Diskussionsstruktur entpuppt sich in der Praxis allzu oft als ‚Netzrauschen‘, ein Zuviel an Informationen.“ Dieses Rauschen ist seither noch lauter geworden. Auch die letzten Gewissheiten sind dabei abhandengekommen.
Angesichts eines vermeintlich linken Zeitgeistes gerieren sich viele Rechte seit einigen Jahren als wahre Gegenöffentlichkeit. Die rechte Internetseite altermedia.info imitiert von Linken bekannte Gesten. Rechte aus aller Welt, unter anderen die NPD, veröffentlichen hier ihre Weisheiten und wettern gegen die „Gutmenschenmedien“. Selbst ihr Motto hat die Internetplattform von einem Linken abgekupfert, nämlich von George Orwell: „In einer Zeit des Universalbetruges ist die Wahrheit zu sagen eine revolutionäre Tat.“
„Gegenöffentlichkeit“, „Revolution“, „Wahrheit“ – wer diese Wörter heute benutzt, kann sich weniger denn je sicher sein, im gewünschten Sinne Gehör zu finden. Niemand kann mit letzter Sicherheit ergründen, warum jemand etwas schreibt oder sendet. Warum sollte es gerade bei meist unter Pseudonym veröffentlichenden Bloggern anders sein? Ironischerweise kehrt die Debatte über Sinn und Inhalte einer Gegenöffentlichkeit damit an ihren Ausgangspunkt zurück, zu den Sit-ins und Teach-ins der 60er-Jahre. Denn weil der vielstimmige Chor der Meinungen im Internet oft einen Meinungswust anhäuft, plädiert Spehr für etwas Altmodisches: persönliche Treffen. „Diskussionen brauchen Face-to-Face-Momente“, urteilt der Politologe. Ansonsten bleibe es meist beim oft harschen, aber ergebnislosen Austausch von Argumenten. Die Interaktion fehle. Mit anderen Worten: „Ein gewisses Maß an Empathie ist nötig.“
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