Gericht stoppt Wahl

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Wohl noch nie in der Geschichte der türkischen Republik hat das Land mit solcher Spannung auf ein Urteil des Verfassungsgerichts gewartet wie gestern. Jenseits aller juristischen Feinheiten ging es für die Bevölkerung einfach darum: Spitzt sich die Krise zu oder weist das oberste Gericht des Landes einen Ausweg. Als der Sprecher dann am frühen Abend vor die Mikrofone trat, war die Erleichterung fast körperlich spürbar: Der Klage der Opposition wurde stattgegeben, die Präsidentenwahl kann nur stattfinden, wenn zwei Drittel der Abgeordneten, das sind 367, zum Wahlgang auch antreten. Da alle Oppositionsparteien die Wahl verweigern und auch bei dem für heute angesetzten zweiten Wahlgang nicht damit zu rechnen ist, dass sich 367 Abgeordnete zur Wahl im Parlament einfinden werden, ist der Versuch, den amtierenden Außenminister Gül zum Präsidenten zu wählen, gescheitert.

Für diesen Fall sieht das Gesetz Neuwahlen vor, und Regierungssprecher Cemil Cicek verkündete nur eine halbe Stunde nach dem Urteil des Verfassungsgerichts, dass die regierende AKP darauf vorbereitet sei. Man werde das Urteil, auch wenn es juristisch sehr strittig ist, akzeptieren und für den Fall, dass heute auch die entsprechende Anzahl Parlamentarier nicht zur Wahl erscheint, den Weg für Neuwahlen freimachen, erläuterte Cicek.

Damit bahnt sich nun ein Ausweg aus der ernstesten Krise der letzten zehn Jahre an. Nach den Putschdrohungen des Militärs und dem millionenfachen Protest auf der Straße kann Ministerpräsident Tayyip Erdogan nun einen Rückzieher machen, ohne dass man ihm vorwerfen kann, vor dem Militär eingeknickt zu sein. Bei der annullierten Abstimmungsrunde vom Freitag hatten nur 361 Abgeordnete ihre Stimme für den Favoriten von Premierminister Erdogan, den ehemaligen Islamisten und amtierenden Außenministers Abdullah Gül von der AKP, abgegeben. Deswegen war die Opposition vor Gericht gezogen.

Auch der AKP-Führung war schon seit Tagen klar, dass die Wahl Güls praktisch gescheitert war, es gab bislang nur keinen Ausweg, den man den eigenen Wählern hätte präsentieren können. Nach der sogenannten Mitternachtserklärung des Generalstabs in der Nacht von Freitag auf Samstag hat die türkische Bevölkerung sich bereits mental auf den Ausnahmezustand eingestellt. Neue Massendemonstrationen, Provokationen von der einen oder anderen Seite hätten in wenigen Tagen zu blutigen Auseinandersetzungen führen können, mit denen dann ein Einschreiten des Militärs legitimiert worden wäre. Aus dieser absehbaren Gewaltspirale hat das Verfassungsgericht nun für einen Ausweg gesorgt.

Erleichtert dürfte auch die türkische Wirtschaft sein. Die Börse war gestern bereits um zehn Prozent abgestürzt und die türkische Lira hatte im Verhältnis zum Euro und Dollar deutlich verloren. Wirtschaftsminister Babacan sagte, dass Land sei im Verhältnis zum Freitag letzter Woche deutlich ärmer geworden.

Neuwahlen können jetzt frühestens in 45 Tagen stattfinden. Erdogan und die Parteispitze der AKP können sich nun aussuchen, ob sie die Wahlen möglichst zügig, noch vor der Sommerpause durchziehen oder den amtierenden Präsidenten Ahmet Necdet Sezer bis zum Herbst weiter im Amt lassen und damit selbst mehr Zeit für den Wahlkampf gewinnen. Wer nach den Wahlen dann Präsident werden kann, ist dagegen seit gestern Abend wieder völlig offen. Ob sich im neuen Parlament wieder dieselben Mehrheiten finden oder nicht, ist angesichts der instabilen Parteiensituation in der Türkei nur schwer vorhersehbar. Sollte die AKP allerdings ihre absolute Mehrheit der Mandate verteidigen können, kann man ihr dann die Wahl eines Präsidenten ihrer Wahl wohl kaum mehr verwehren.