piwik no script img

Kobani vor dem Fall

KURDISTAN Kämpfer des Islamischen Staats dringen in die von Zivilisten entvölkerte Stadt vor – und die Türkei rührt sich nicht

„Ohne Bodentruppen ist der Kampf gegen IS nicht zu gewinnen“

DER TÜRKISCHE PREMIER TAYYIP ERDOGAN, DER VORLÄUFIG KEINE TRUPPEN ENTSENDEN WILL

VON JÜRGEN GOTTSCHLICH

ISTANBUL taz | „Es ist zum Verzweifeln. Warum hilft uns niemand?“ Hasan, einer der letzten Zivilisten, die in der Nacht von Montag auf Dienstag aus der belagerten Stadt Kobani geflohen sind, weint fast vor dem Mikrofon einer türkischen Reporterin. „Die Türkei tut nichts aber der Westen lässt uns auch im Stich“, beklagt er sich.

Noch ist die Stadt Kobani an der syrisch-türkischen Grenze nicht an die Terrormiliz „Islamischer Staat“ gefallen, aber das Ende rückt näher. „Das Momentum“, wie ein CNN-Reporter an der Grenze es nennt, „ist auf der Seite der IS-Milizen“. Am Montagabend war es einigen Gruppen des IS erstmals gelungen, an einigen Stellen im Süden und Westen Kobanis in die Stadt einzudringen. Außerdem nahmen sie den tagelang umkämpften Hügel Mistenur im Süden der Stadt ein, von dem aus die Islamisten die gesamte Stadt gezielt mit ihren Mördergranaten beschießen können.

Zwar bestätigten Sprecher der Kurden am Dienstag, dass jetzt endlich auch die US-Luftwaffe ihre Angriffe auf IS-Milizen am Stadtrand von Kobani intensiviert hat. „Es ist das erste Mal, dass die Menschen den Eindruck gewinnen, dass die Luftangriffe effektiv sind“, sagte Barwar Mohammed Ali, einer der kurdischen Verteidiger der Stadt. Doch die Luftschläge reichten nicht, um die Terrormiliz „Islamischer Staat“ zu stoppen.

Die kurdischen Kämpfer der DYP können zwar einzelne Straßenzüge zurückerobern, insgesamt aber rücken sie Meter für Meter in den nördlichen Teil der Stadt hin zur Grenze zur Türkei ab. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis Kobani fällt“, bestätigte einer der kurdischen Kommandeure der Nachrichtenagentur Reuters telefonisch aus der belagerten Stadt die Lage.

In der Nacht zu Dienstag hatten kurdische Kämpfer die letzten verbliebenen Zivilisten in der Stadt an die türkische Grenze gebracht. Die Vereinten Nationen bestätigten am Dienstag, dass noch einmal 2.000 Flüchtlinge in die Türkei gekommen seien.

Nur die türkische Armee könnte den Fall Kobanis an den „Islamischen Staat“ noch verhindern. Der türkische Generalstab ließ zwar mehrere Panzereinheiten an der Grenze auffahren, gab aber bis zuletzt keinen Angriffsbefehl.

Präsident Tayyip Erdogan rechtfertigte gestern die türkische Haltung bei einem Auftritt in einem Lager für syrische Flüchtlinge in der grenznahen Stadt Gaziantep und machte indirekt die USA dafür verantwortlich, dass es bis jetzt immer noch keine gemeinsame Strategie gäbe, die den Einsatz von Bodentruppen vorsehen würde. „Ohne Bodentruppen ist der Kampf gegen IS nicht zu gewinnen“, sagte Erdogan. Gleichzeitig bekräftigte er aber noch einmal den Standpunkt der türkischen Regierung, wonach die kurdische PKK, deren syrischer Ableger in Kobani kämpft, genauso eine Terrororganisation sei, wie der „Islamische Staat“.

Gelingt den IS-Milizen die vollständige Einnahme von Kobani, dann verlieren die syrischen Kurden die zentrale von drei autonomen Kantonen, die sie sich in den letzten zwei Jahren erkämpft hatten. Da die in diesen Kantonen dominierende Partei DYP eng mit der türkisch-kurdischen PKK verbunden ist, war es von Beginn an schwer vorstellbar, dass die türkische Armee ausgerechnet den syrischen Ableger der PKK unterstützt. Denn obwohl Erdogan seit zwei Jahren Verhandlungen mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan führen ließ, bleibt die PKK für ihn und den größten Teil des türkischen politischen Establishments doch eine Terrororganisation.

In den türkischen Medien wird bereits Bilanz gezogen. „Kobani“, schrieb der Reporter der Tageszeitung Hürriyet an der syrischen Grenze, „war eine historische Chance, den langen Konflikt zwischen Türken und Kurden zu heilen, wenn die türkische Armee den Kurden zu Hilfe gekommen wäre. Diese Chance ist vertan. Die Konsequenzen werden fatal sein“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen