: Hier biste zu Haus
ZUKUNFT? Eine Begegnung mit jungen Obdachlosen zu Beginn der zehner Jahre – im Zentrum der Hauptstadt
■ Der Fotograf, Jahrgang 1971, ist Dozent für Fotografie an der Universität Potsdam. Er studierte zuvor künstlerische Fotografie bei Timm Rautert an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Gnaudschun ist Mitglied der Agentur Lux.
■ Für das Projekt „Berlin Alexanderplatz“ besuchte er ab Anfang des Jahres 2010 regelmäßig den Ort des Geschehens. Derzeit ist er im Begriff, aus dem Material ein Buch zu erstellen. Mehr Informationen: www.gnaudschun.de
VON GÖRAN GNAUDSCHUN
Ratlose Touristen suchen mit dem Stadtplan in der Hand den Platz. Bauarbeiter mit Schichtmolle und glasigem Feierabendblick gucken durch sie hindurch. Menschen mit übervollen Tüten queren den Platz gegenläufig. Grün für Galeria Kaufhof, Blau-Orange für „Saturn“.
Aufgedrehte Klassenfahrten aus dem Westen, gefolgt von zwei bebrillten Lehrern. Die Reinigungsmaschine mit einem drinnen sitzenden Männchen macht lärmend ihre Runde. Sieht aus wie aus dem Playmobilland. Aufdringliche Naturschützer wollen nicht nur die Unterschrift, sondern eine monatliche Einzugsermächtigung. Zigeunerfrauen mit langen Kleidern und stillen Kindern auf dem Arm. Vorgereckte muldenförmige Hand: „Hallo, speaking english?“
Polizisten dämmern in Mannschaftswagen. Abendverkehr umdröhnt den Fußgängern vorbehaltenen Platz. Von fern tönt der Lautsprecherwagen einer Demonstration, wofür oder wogegen, das bleibt unklar. Mädchen, die kichernd aus der Galeria Kaufhof kommen. Sachen anprobiert, ohne irgendwas zu kaufen.
Am Brunnen der Völkerfreundschaft sitzen Fußlahme mit freiem Oberkörper. Frauen sind stolz auf ihre insektenhaften Sonnenbrillen, die verdecken ihre angehungerten Falten. Bratwurstverkäufer müssen ihre überschweren Stände mit sich herumtragen.
Die Weltzeituhr. In Ostgrönland ist also jetzt Mittag. Einzeln Herumstehende warten auf ihre Verabredungen. Von Zeit zu Zeit kramen sie ihre Handys heraus, um nachzusehen, wie spät es ist. Vor dem Eingang zur S-Bahn sind schon ab dem frühen Nachmittag die ersten Punks, manchmal stehen sie auch im Weg, unbewusst mit ihrem Immer-da-Sein den Strom der Geschäftigkeit bremsend. Selten fällt ein böses Wort. Dafür ist es noch zu früh.
■ Nicky, Mai 2010
■ Meph, Mai 2010
■ René, Juli 2010
■ Tiger, Juli 2010
■ Bibi, Juni 2010
■ Mel, Mai 2010
Der Platz ist weit und hell. Stadtplaner rattern gern das Klischee von der zugigen DDR-Katastrophe herunter. In dem Betonriegel, der die Südseite des Platzes begrenzt, leben vorwiegend Rentner, alt gewordene Eliten des vormaligen Systems. Vor dem Riegel Kleingruppen schnorrender Punks. Cafés, die mehr an Osteuropa als an Latte macchiato denken lassen, obwohl es das Schaumgetränk selbstverständlich auch hier gibt.
Ein angemalter Bär steht vor einem Berlin-Shop, die Kugelschreiber, die man dort für 1 Euro kaufen kann, heißen „I Herz Berlin“.
Eine Bank weiter junge Protagonisten der Alex-Szene, Bier dabei und gegen Abend immer lauter werdend. Keiner von ihnen war je auf dem Fernsehturm.
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