: Die Tage der Angst
ERREGER In einer Klinik in Hamburg bangt ein Mann um seine Frau, auf einem Biohof fürchten Landwirte um ihre Existenz, in einem Seucheninstitut in Berlin versucht der Chef den Überblick zu behalten. Wie Ehec ein Land bis heute verändert
VON HEIKE HAARHOFF UND JOST MAURIN
Der 3. Juni ist der Tag, an dem Karin Schader in ihr normales Leben entlassen werden soll – aus der Asklepios Klinik in Hamburg-Altona. Station für Innere Medizin, Zimmer 8, zwei Betten, Fenster nach Süden, eineinhalb Wochen hat sie hier gelegen. Die Ärzte wollen sie dann doch noch länger dabehalten. Sie sei unruhig gewesen in der Nacht, erzählen sie Peter Schader, ihrem Mann. Gut, hofft Schader da noch, dann wird er sie eben morgen abholen. Oder übermorgen.
Peter Schader, 44 Jahre alt, sieht seine Frau an. Er kann diese Szenen alle noch abrufen, auch vier Monate später. Karin Schader sitzt, es ist ein warmer Tag im Herbst, neben ihrem Mann auf der Terrasse ihres Reihenhauses im Hamburger Westen, eine 39 Jahre alte, ruhige Frau, vielleicht schmaler als andere in ihrem Alter, blasser, aber was zählt das, wenn eine gerade den Kampf ums Leben für sich entschieden hat?
Peter Schader erzählt seiner Frau, was passiert ist. Sie will es wissen. Sie weiß es nicht: „Ganz plötzlich fingst du an zu zittern, alle Muskeln waren angespannt, deine Arme waren hoch, die Augen verdreht, du machtest röchelnde, tierische Geräusche, Speichel lief dir aus dem Mund, es war …“
Er räuspert sich, er zögert. Er hat versprochen, dass er ihr so genau wie möglich alles erzählen wird, woran sie sich nicht erinnert, vermutlich nie wieder wird erinnern können, sagen die Ärzte. Und doch ist es eine Gratwanderung, ihrem Bedürfnis nach minutiöser Rekonstruktion gerecht zu werden und sie mit dieser Offenheit nicht zu verletzen: „Es war, wie man das aus Horrorfilmen kennt: wenn sich ein Mensch verwandelt.“
Sie nickt. Aufmerksam, interessiert, geduldig, wie eine Therapeutin, die ihrem Patienten helfen will. Nur, dass es hier um sie selbst geht. Um zwei Wochen ihres Lebens und die Folgen, beginnend mit dem 3. Juni 2011. Karin Schader hat epileptische Anfälle, begleitet von schweren Krämpfen, halbseitiger Körperlähmung, Orientierungslosigkeit, innerer Unruhe, Wahnvorstellungen: Mal hält sie das Kissen in ihrem Bett für eine Person, dann hat sie Angst vor dem Fremden, den außer ihr niemand sieht. Manchmal erkennt sie ihre eigene Mutter nicht mehr.
Zwei Wochen Gedächtnisverlust, drei Monate Arbeitsausfall. Karin Schaders Gehirn wird keinen bleibenden Schaden davontragen, und die Lähmungen haben sich zurückgebildet. Aber der Schock: dass erstens ein tödlicher Darmkeim auf frischem Gemüse lauert, aber keiner weiß, wo genau. Dass zweitens dieser Keim aus dem Darm auch im Hirn wütet. Dass er drittens eine umhauen kann wie die Diplompädagogin Karin Schader aus Hamburg, sportlich, ernährungsbewusst, dieser Schock hat nicht bloß sie und ihre Familie aus der Bahn geworfen, sondern ein ganzes Land, vorübergehend jedenfalls. Spätfolgen ungewiss.
Den Darmkeim nennen Mediziner Ehec. Das Escherichia-coli-Bakterium O104:H4 löst vom 1. Mai bis zum 4. Juli – dem offiziellen Anfang und Ende der Epidemie – bei etwa 4.000 Menschen schwere Durchfallerkrankungen aus. Oft entwickeln sie das hämolytisch-urämische Syndrom, kurz HUS, das die Nieren schädigt. Sonst finden die Ärzte Ehec nur bei etwa 1.000 Patienten im ganzen Jahr, kaum jemand stirbt.
Dieser Ausbruch aber kostet während neun Wochen 53 Menschen in Deutschland das Leben. Damit ist die Ehec-Welle der größte Lebensmittelskandal der vergangenen Jahrzehnte in der Bundesrepublik. Weder bei der Rinderkrankheit BSE noch beim Gift Dioxin in Eiern oder Fleisch sind Fälle von Menschen bekannt geworden, die starben.
Jetzt, einige Monate später, lässt sich an den Orten der Epidemie beobachten, was in dieser Zeit genau passiert ist, was schieflief – und was künftig besser funktionieren muss.
Es wird Sonntag, der 22. Mai gewesen sein, als Karin Schader erstmals in den Radionachrichten hört, dass in Norddeutschland ein hartnäckiger Erreger zu einer Welle schwerer Durchfallerkrankungen führt. So sagt ihr das ihre Erinnerung.
Karin Schader heißt in Wahrheit anders, aber sie und ihr Mann, sie möchten nicht als Ehec-Paar gegoogelt werden können. Schader ist eine vorsichtige Frau, sie hat eine drei- und eine sechsjährige Tochter, sie weiß, was Hygiene bedeutet. Deswegen hat sie keine Panik, trotz ihrer eigenen Bauchschmerzen und der Übelkeit. Sie arbeitet seit zehn Jahren bei der Diakonie und managt das Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Menschen in Wohngruppen. Erst Anfang der Woche, am 16. und 17. Mai, war sie dienstlich auf einer Fachtagung in Jesteburg in der Lüneburger Heide. Ein Thema: Stress und Ernährung.
Einen Tag später, am 23. Mai, hat sie blutigen Durchfall, „erst alle 20 Minuten, dann in immer kürzeren Abständen, am Ende alle drei Minuten, es waren Schmerzen wie bei der Geburt“. Ihre Hausärztin habe nicht an Ehec geglaubt. Aber als Karin Schader die beiden Kinder erwähnt und ihre Sorge, sie anzustecken, nimmt die Ärztin eine Stuhlprobe und überweist sie ins Krankenhaus. Rein vorsorglich.
Die Notaufnahme der Asklepios Klinik ist zu diesem Zeitpunkt überfüllt, fast alle Patienten haben Blut im Stuhl, die Ärzte nehmen Proben, doch die Ergebnisse, sagen sie, kann es erst einen Tag später geben. Patientinnen wie Karin Schader, deren Kreislauf da noch stabil ist, werden mit Durchfallmitteln versorgt und nach Hause geschickt. Karin Schader bleibt optimistisch: Durchfall kommt – und geht.
Es ist eine Freundin, die am 24. Mai die Notbremse zieht: Durchfall im Minutentakt, und die Medikamente schlagen nicht an? „Karin, da stimmt doch was nicht“, ruft die Freundin ins Telefon, setzt sich ins Auto und bringt Karin Schader in die Asklepios Klinik zurück. Dort liegen jetzt die Testergebnisse vor: Karin Schader hat sich mit Ehec infiziert. Für die Ärzte ist sie zunächst ein leichterer Fall; Schmerzmittel, Infusionen, ein Zweibettzimmer auf der Station für Innere Medizin. Sie wird zu einer Nummer in der Datenbank von Reinhard Burger.
Burger leitet die Behörde, die für die Bundesregierung Krankheiten überwacht und im Ernstfall den Ländern hilft, die Ursache einer Epidemie zu finden – das Robert-Koch-Institut, das RKI.
Der Immunologie-Professor ist 62 Jahre alt. Er sitzt in einem alten Backsteinbau in Berlin, lange Gänge, erster Stock, und trägt ein etwas altmodisch-blassgelbes Hemd. Seit August 2010 ist er Präsident des Instituts. Dass nun so viele Menschen in so kurzer Zeit nach einer Infektion über ein Lebensmittel so schwer erkranken – das hat er noch nicht erlebt. „Das war schon das Aufregendste in meiner Zeit als RKI-Präsident“, sagt Burger.
Sein Institut erfährt am 19. Mai von der Ehec-Welle. Eine E-Mail der Hamburger Gesundheitsbehörde: Drei Kinder haben HUS. Drei Fälle – dabei sind an jenem Donnerstag schon Hunderte von Menschen an Ehec oder HUS erkrankt, zum Teil seit Wochen.
War das RKI zu langsam?
„Nein, wir können uns erst einschalten, wenn wir von einem Infektionsgeschehen erfahren. Vor Ort können wir erst aktiv werden, wenn ein Land uns einlädt“, sagt Reinhard Burger.
Als Hamburg das tut, schickt der Institutschef 15 Leute dorthin. Seine Experten befragen die ersten Patienten, was sie gegessen hatten, ob sie Kontakt hatten zu Tieren, die häufig Ehec übertragen.
Drei Tage nach der Meldung aus Hamburg informiert das Institut: Rohes Fleisch und Rohmilch scheiden als mögliche Überträger aus. Weitere drei Tage später warnt es davor, vor allem in Norddeutschland gekaufte Blattsalate, Gurken oder Tomaten roh zu essen.
In Hamburg verhängt der Kindergarten eine Sperre für Annika und Mia, die Töchter der Schaders, obwohl die gar keinen Durchfall haben. Erst wenn drei Stuhlproben in Folge negativ sind, dürfen sie die Kita wieder betreten. Peter Schader muss eine Woche zu Hause bleiben. Eine Woche?! Schader baut Flugzeuge bei Airbus, er hat Verantwortung, Aufträge. Teilzeit und Kinderbetreuung, das waren bislang die Angelegenheiten seiner Frau, er bittet die Großmütter um Nothilfe. „Wie sehr ich diesen Erreger unterschätzt habe, das wird mir erst im Nachhinein klar“, sagt Schader.
Er bekommt jetzt Post vom Gesundheitsamt, deutscher Föderalismus, Kommunen sammeln, Länder sichten, und irgendwann gelangen die Ergebnisse tatsächlich zur Bundesbehörde, dem RKI. Schader erhält Desinfektionsmittel, Gefäße für Stuhlproben, frankierte Umschläge. Rücksendung per Post? Es ist Samstag, der 28. Mai. Per Post kommen die Proben doch frühestens am Dienstag ins Labor. Peter Schader, der Ingenieur, setzt sich ins Auto und bringt die Umschläge persönlich zum Gesundheitsamt. Er findet die Türen verschlossen.
Ehec ist auch ein Beispiel dafür, wie das deutsche Gesundheitssystem mit Krisen umgeht. Bis eine Ehec-Diagnose vom Arzt über das örtliche Gesundheitsamt und die Landesbehörden im Robert-Koch-Institut ankommt, können schon mal zwei Wochen vergehen. In der ersten Phase der Epidemie – vom 1. bis 18. Mai – wird das RKI nach eigenen Angaben über 50 Prozent der Ehec-Diagnosen erst nach mehr als neuneinhalb Tagen informiert.
Die Ursachen sind lange bekannt: Manche Ärzte wissen nicht, dass sie schneller melden müssen, viele Gesundheitsämter sind überlastet, manche Beamte arbeiten einfach zu langsam. Und das, obwohl spätestens seit dem 13. Mai täglich mehr als fünfzig Menschen erkrankten. Das geht aus einem Diagramm des RKI hervor.
Weil die Daten so langsam fließen, beginnt das Institut erst kurz vor dem Höhepunkt der Epidemie damit, die Ursache zu suchen. Hätte es früher angefangen und früher die Quelle gefunden, wären womöglich weniger Menschen gestorben. Da verwundert es nicht, dass RKI-Wissenschaftler diese Zahlen zur Meldeverzögerung nur in einem englischsprachigen Artikel einer Fachzeitschrift veröffentlichen.
Und dann die vielen Fragebögen! Die Schaders können rückblickend nicht mehr sagen, wie viele von wie vielen verschiedenen Stellen sie ausgefüllt haben, vier mindestens, schätzen sie. Was haben Sie gegessen, wo haben Sie eingekauft? Immer wieder. „Ich habe dann später, als du auch nicht mehr schreiben konntest, einen Fragebogen im Krankenhaus für dich ausgefüllt“, sagt Peter Schader. „30 Seiten! Zehn Tage sollte ich rückwärts konstruieren, zehn Tage rückwärts ab Ausbruch der Krankheit. Den Fragebogen bekam ich aber erst, als du schon fast drei Wochen in der Klinik warst.“
Es sind nicht die Behörden und nicht die Ärzte, sondern Freunde und Kollegen, die die entscheidenden Fragen stellen. Fragen, die dazu führen, dass heute feststeht, wo sich Karin Schader wohl infiziert hat: in dem Tagungshotel Jesteburg während der Expertenrunde am 16. und 17. Mai. Zeitgleich mit Karin Schader erkranken drei weitere Kolleginnen an Ehec. Alle waren eine knappe Woche zuvor in Jesteburg, alle aßen etwas vom Salatbuffet.
Die Organisatoren der Tagung werden stutzig. Sie wenden sich an die Gesundheitsbehörden. Und an das Tagungshotel. „Wir“, sagt ein Sprecher des Hotels, „haben daraufhin alle Mitarbeiter umgehend untersuchen lassen.“ Das Ergebnis: Auch zwei Hotelmitarbeiterinnen sind erkrankt. Geschlossen, sagt der Sprecher, hätten die Behörden das Hotel zu keinem Zeitpunkt. Auch habe das zuständige Veterinäramt die medizinische Untersuchung des Personals erst angeordnet, „als wir das schon längst veranlasst hatten“.
Vieles, was heute so klar wirkt, müssen die Behörden, müssen Reinhard Burgers Leute in den Wochen nach dem Ausbruch mühsam herausfinden.
Der 5. Juni ist ein Sonntag, trotzdem war es ein anstrengender Tag für den RKI-Präsidenten Burger – während der Ehec-Krise ist er fast immer im Dienst.
Jetzt ist es 22.45 Uhr, Reinhard Burger ist zu Hause, er schaltet die „Tagesthemen“ ein. Er sieht: Niedersachsens Agrarminister Gert Lindemann, CDU. Der sagt auf einer Pressekonferenz, dass er eine „sehr deutliche Spur für die Infektionsquelle“ habe. Ein Hof aus der Gemeinde Bienenbüttel nahe Lüneburg habe alle bislang bekannten größeren Ausbruchsorte des Erregers mit Sprossen beliefert. Der Minister warnt deshalb davor, Sprossen zu essen. Die Journalisten sprechen von einem Durchbruch.
Burger ist baff.
„Ich habe das aus den Nachrichten erfahren“, sagt der Chef von Deutschlands wichtigster Behörde für die Bekämpfung von Krankheiten.
Das Agrarministerium in Niedersachsen teilt allerdings mit: Das RKI sei schon Sonntagmittag per Mail informiert worden.
Die Information, sagt dazu wiederum das Robert-Koch-Institut, sei in einem Postfach gelandet, das am Wochenende nicht „bewirtschaftet“ werde.
In Deutschland sind mehr als 400 örtliche Gesundheitsämter, dazu Landesstellen, Ministerien und Bundesbehörden dafür zuständig, Krankheiten zu bekämpfen. Doch eine einheitliche Führung gibt es erst ab dem 3. Juni, seitdem die „Task Force Ehec“ mit Beamten aus den wichtigsten Behörden im Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit arbeitet.
Am 3. Juni ist der Höhepunkt der Epidemie seit fast zwei Wochen überschritten.
■ 1. Mai: In Aachen wird ein 45-jähriger Mann zum ersten bekannten Ehec-Patienten. Neben Ehec O104 werden bei ihm noch andere Durchfallerreger nachgewiesen.
■ 8. Mai: Erster Fall des hämolytisch-urämische Syndroms (HUS) mit Ehec-0104-Nachweis bei einem Erwachsenen.
■ 13. Mai: Mehr als 50 Menschen täglich erkranken in Deutschland, die meisten im Norden.
■ 19. Mai: Das Robert-Koch-Institut in Berlin erfährt von der Ehec-Welle per Mail von der Hamburger Gesundheitsbehörde.
■ 24. Mai: Eine 83-jährige Frau sei bereits am 21. Mai an den Folgen der Infektion gestorben, teilt das niedersächsische Gesundheitsministerium mit. Sie ist das erste Todesopfer in der Bundesrepublik.
■ 25. Mai: Das Robert Koch-Institut warnt davor, vor allem in Norddeutschland gekaufte Blattsalate, Gurken oder Tomaten roh zu essen. FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr erklärt in Berlin, er wolle vorerst keinen gesonderten Ehec-Krisenstab einrichten. Sein Ministerium stehe in ständigem Kontakt zu den Ländern und ihren Behörden.
■ 26. Mai: Die Hamburger Gesundheitssenatorin der SPD, Cornelia Prüfer-Storcks, verkündet, ein Überträger des Ehec-Keims sei „eindeutig“ identifiziert: Gurken aus Spanien. Die Proben stammten vom Hamburger Großmarkt. Der spanische Agrarverband COAG dagegen hält es für unwahrscheinlich, dass die belasteten Gurken aus Spanien stammen. Der Gurkenexport bricht trotzdem ein.
■ 2. Juni: Spanische Bauern kippen aus Protest Gemüse vor das deutsche Konsulat in Valencia.
■ 3. Juni: Im Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit nimmt eine „Task Force Ehec“ ihre Arbeit auf.
■ 5. Juni: Der niedersächsische Landwirtschaftsminister Gert Lindemann von der CDU nennt die Sprossen eines Biohofs in Bienenbüttel als Infektionsquelle.
■ 10. Juni: Das Robert-Koch-Institut, das Bundesinstitut für Risikobewertung und das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit geben Entwarnung für Gurken, Tomaten und Salat auf. Sprossen sollen bis auf Weiteres nicht roh verzehrt werden.
■ 4. Juli: Die offiziell letzte Ehec-Neuerkrankung wird gemeldet.
Burger bezweifelt, dass der niedersächsische Minister an jenem Sonntag genug in der Hand hatte. Labortests hatten den Keim noch nicht eindeutig auf den Sprossen nachgewiesen.
Die Hotelmanager sichten eilig die Lieferscheine
Burger fühlt sich an den 26. Mai erinnert, als die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks spanische Gurken als Überträger nannte – spätere Tests zeigten, dass die Gurken zwar Ehec-Erreger trugen, aber nicht den Typ O104:H4, der die Epidemie verursachte. Der Institutschef ist Wissenschaftler, nicht Politiker. Deshalb schließt er sich nicht der Warnung des niedersächsischen Agrarministers vor Sprossen an, und warnt weiter nur vor rohem Blattsalat, Gurken und Tomaten.
In Jesteburg sehen die Hotelmanager noch an diesem Abend eilig ihre Lieferscheine durch: Seit Jahren beziehen sie Sprossen vom Biohof in Bienenbüttel, direkt, ohne Zwischenhändler. Auf dem Speiseplan vom 16. Mai, der Tagung von Karin Schader: Spargelsalat. Mit Sprossen.
Der Hof gehört Uta Kaltenbach und Klaus Verbeck. Die Kreisverwaltung Uelzen habe sie kurz vor Lindemanns Pressekonferenz informiert, erzählen sie. Sie bekommen klare Anweisungen: Alles zurückholen, was bei den Kunden ist. Bis Mitternacht kontaktieren sie ihre Abnehmer per Mail, Fax, Telefon.
Da haben Verbeck, Kaltenbach und die anderen Mitglieder der alternativen Hofgemeinschaft schon lange die Vorhänge zugezogen. Sie fühlen sich bedroht von den Kamerateams, die tagelang den Hof belagern. Einige versuchen, über den Drahtzaun zu klettern. „Wir haben die Polizei gerufen. Die haben sofort zwei Streifenwagen geschickt“, sagt Verbeck, ein hagerer Ökogärtnermeister.
Im Haus plagen die Leute vom Biohof üble Gedanken: Kann es sein, dass an ihren Produkten Menschen gestorben sind? „Warum macht man Bio und Sprossen? Man will ja gerade was Frisches, was Gesundes herstellen“, sagt Kaltenbach. Noch schlimmer als die Kameras sind die Zweifel.
Kaltenbach und Verbeck gehörten zu den Ersten in der Region, die einen Hof biologisch bewirtschaftet haben. Sie waren überzeugt, dass es besser ist, Lebensmittel ohne Kunstdünger zu erzeugen. Sogar ohne tierische Dünger. Andere Ehec-Varianten wurden vor allem von Tieren übertragen. „Da ist eine sehr bittere Ironie drin, dass nun ausgerechnet wir unter Verdacht stehen“, sagt Kaltenbach, eine 43-jährige, dünne Brillenträgerin, die sich vegan ernährt. Mittlerweile gehen die Gärtnerhof-Leute zu einer Psychologin.
„Uns ist bis heute nicht klar, wie der Minister Lindemann am 5. Juni unter Namensnennung unseres Betriebs diesen Verdacht aussprechen konnte, als ob er schon festgestanden hätte“, sagt Kaltenbach. Sie nippt an ihrem Kräutertee. Ihre Stimme klingt hart, auch verzweifelt.
Der CDU-Politiker antwortete auf solche Vorwürfe später, dass die Lieferwege ziemlich klar auf Bienenbüttel hingewiesen hätten. Außerdem sei eine Mitarbeiterin des Sprossenbetriebs positiv auf Ehec getestet worden.
Auf der Reihenhausterrasse in Hamburg sieht Peter Schader seine Frau jetzt wieder vor sich, an diesem Tag im Juni, als sie eigentlich entlassen werden sollte. „Ich war ja allein mit ihr“, sagt er. Die Terrasse wird in diesem Moment zu Karin Schaders Krankenzimmer. Peter Schader steht vom Tisch auf, er spielt sich selbst, er macht das perfekt, ein Hanseat, der noch im Ausnahmezustand die Contenance bewahrt: „Können Sie bitte mal kommen?“, und, als er das Gefühl hat, dass das nicht gleich hilft, lauter, energischer, immer noch höflich: „Können! Sie! Bitte! Kommen!“
Da kommen sie, Pfleger, Ärzte, Schwestern. Kittel, Hauben, Gummihandschuhe: „Sie haben dich an den Beinen festgehalten, sie haben dir den Mund auseinandergezogen, weil sie Angst hatten, dass du erstickst, sie haben dir Medikamente gegeben, und dann, ich weiß nicht mehr wann, nach einer Ewigkeit jedenfalls, bist du wieder zu dir gekommen.“
Aber die Frau, die da um kurz nach elf ins Leben zurückkehrt, ist nicht die von 10.59 Uhr: Sie lallt, ihre Augen können nur noch nach rechts schauen, ihre linke Körperhälfte ist gelähmt. Einen Zusammenhang mit Ehec schließen die Ärzte aus. Bislang haben schließlich, wenn überhaupt, nur die schweren Fälle vereinzelt neurologische Symptome entwickelt. Karin Schader gilt als leichter Fall. Die Ärzte vermuten einen Hirntumor. Vollnarkose, Kernspintomografie. Intensivstation.
„Das“, sagt Peter Schader, „war dann der Startschuss von der härteren Nummer.“
An jenem Abend ruft Peter Schader die Eltern und die Freunde an. Er spürt: „Das wird eine längerfristige Angelegenheit.“ Peter Schader organisiert eine Haushaltshilfe.
Seine Frau kann jetzt nicht mehr allein sein. Angst- und Dämmerzustände wechseln einander ab. Sie kann kaum sprechen, die Lähmung ist immer noch da, aber sie macht klar: Ihr Mann soll kommen. Er soll sie nach Hause bringen. Freunde und Verwandte organisieren eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Die Ärzte öffnen die Intensivstation für die Kinder. Ihre Patientin braucht einen Motivationsschub. „Mama, hast du noch Beine, wenn du nicht mehr laufen kannst?“, fragt Annika.
„Ich hätte gern einen Sandsack gehabt, um darauf einzudreschen“, sagt Peter Schader.
Und wenn es doch einen Zusammenhang mit Ehec gibt?
Peter Schader ruft im Universitätskrankenhaus in Hamburg-Eppendorf an, vielleicht wissen die ja mehr als im Asklepios. Er brüllt jetzt, wenn die Ärzte ausweichend antworten.
Die Zahl der Erkrankten und Toten steigt. Bauern in mehreren europäischen Ländern verkaufen weniger Gemüse als sonst, weil Verbraucher Angst haben, es könnte verseucht sein. Allein in Norddeutschland verzichten 76 Prozent der Bevölkerung teilweise oder völlig auf rohes Gemüse, findet die Gesellschaft für Konsumforschung in einer Umfrage Mitte Juni heraus. Da Hamburg fälschlicherweise Gurken aus Andalusien als Quelle genannt hat und Spanien dagegen protestiert, entwickelt sich der Fall zur Staatsaffäre. Am 1. Juni fordert sogar die EU-Kommission Deutschland auf, sich stärker ins Zeug zu legen, um die Ursache zu finden.
Das steigert den Druck auf Burgers Epidemieforscher in Berlin. Jetzt analysieren sie die Speisepläne von Reisegruppen, die sich wahrscheinlich in einem Lübecker Restaurant angesteckt haben. Die Wissenschaftler gehen die Bestellbücher der Gaststätte durch, sie fragen die Kunden, was sie gegessen haben. Weil sich viele kaum erinnern können, zeigen die Ermittler ihnen Fotos von den Gerichten. Und sie fragen den Koch: Hat er für die Speisen Sprossen verwendet?
Am 10. Juni ist Reinhard Burger so sicher, dass er sich vor die Kameras stellt: Das Robert-Koch-Institut hat eilig gemeinsam mit anderen Bundesbehörden zu einer Pressekonferenz eingeladen. „Es sind die Sprossen“, sagt Burger. Heute trägt er einen dunklen Anzug, eine schimmernde rote Krawatte und ein weißes Hemd. Ein besonderer Tag.
Die Studie mit den Lübecker Restaurantbesuchern hat ergeben: Gesund blieben nur Gäste, die keine Sprossen aus Bienenbüttel auf dem Teller hatten. Deshalb heben die Behörden ihre Warnung vor Blattsalaten, Tomaten und Gurken auf. Sie raten nur, keine rohen Sprossen zu essen. Die Gemüsebauern atmen auf. Offen bleibt für die Ermittler jetzt lediglich, wie der Keim nach Bienenbüttel kam.
Für Karin Schader gelingt der Durchbruch am 13. Juni. Neurologen, Nieren- und Darmspezialisten, Intensivmediziner und Epidemiologen haben Wissen, Hypothesen und Erfahrung ausgetauscht, über Fachdisziplinen und Kliniken hinweg. Sie haben so gut kooperiert wie sonst selten.
Sie wissen jetzt: E. coli, also der Keim selbst, wandert nicht ins Gehirn. Sondern es sind die von den Ehec-Bakterien gebildeten Gifte, die Shiga-Toxine. Sie sind es, die die schweren neurologischen Symptome und immunologischen Veränderungen hervorrufen. Es gibt eine Hoffnung: Blutwäsche, sonst nur üblich bei schweren Nierenschäden, einmal täglich, Dauer zwei Stunden.
Bei Karin Schader schlägt die Therapie nach vier Tagen an. Die Lähmungen gehen langsam zurück, es gibt keine neuerlichen epileptischen Anfälle, sie lallt weniger stark. Seit dem 19. Juni kann sie sich wieder erinnern. Die Geheimzahl ihrer EC-Karte ist ihr bis heute nicht eingefallen. Die Bank hat ihr eine neue gegeben, kostenlos.
■ Der Erreger: O104:H4 ist ein Bakterium der Gruppe Escherichia coli (E. coli), die natürlicherweise im Darm von Menschen und Tieren vorkommt. Bestimmte E.-coli-Typen wie Ehec oder EaggEC können Darmkrankheiten verursachen. Die Gene des O104:H4 ähneln zu mehr als 90 Prozent einem EaggEC, der erstmals bei Menschen aus Zentralafrika nachgewiesen wurde. EaggEC sind vor allem – aber nicht nur – aus Regionen mit mangelhaften Hygienebedingungen bekannt.
■ Die Herkunft: Vor dem Ausbruch im Frühjahr in Deutschland war der O104:H4 weder bei Tieren noch in Proben aus der Umwelt beobachtet worden. Deswegen gehen Wissenschaftler davon aus, dass er sein Reservoir im Menschen hat. Wie für Ehec-Keime typisch, kann der O104:H4 ein bestimmtes Gift, die Shigatoxine, bilden. Zudem ist er in der Lage, sich über ein Protein im Darm seiner Wirte festzuheften. Forscher isolierten den O104:H4 das erste Mal 2001 bei einem Geschwisterpaar aus Köln. Weitere Fälle wurden in Südkorea, Georgien, Finnland und Frankreich beschrieben.
Foto: Ingo Wagner/dpa
„Erst wollten die 15 Euro haben, aber da sagt meine Frau, wieso, ich hatte Ehec.“ Peter Schader lacht jetzt.
Die Ehec-Angst hat Nähe geschaffen.
Es klingt zynisch, aber für die Ermittler ist es ein Glücksfall, dass der deutsche Ehec-Typ O104:H4 nun auch in Südfrankreich bei mindestens zwölf Menschen Erkrankungen auslöst. Sie alle haben am 8. Juni an einer Veranstaltung in einem Kinderfreizeitzentrum bei Bordeaux teilgenommen – auf dem Buffet lagen auch Sprossen. Sie wurden teilweise aus den gleichen Samen gezogen, die ebenfalls die Bienenbütteler benutzt hatten: Bockshornklee eines Exporteurs in Ägypten. Wegen dieser Gemeinsamkeit folgern die Ermittler, dass die Samen den Keim nach Bienenbüttel getragen haben. Burger und die anderen Behördenchefs bezeichnen die Ehec-Krise deshalb am 5. Juli als „aufgeklärt“.
Bis heute ist aber unklar, wie der Erreger in die Samen gekommen ist. Die Behörden können lediglich für etwas mehr als 300 der rund 4.000 Erkrankungen nachweisen, dass die Betroffenen wahrscheinlich Sprossen aus Bienenbüttel gegessen haben. „Das reicht mir nicht“, sagt Klaus Verbeck, der Chef des Gärtnerhofs. Viele Menschen könnten sich einfach nicht daran erinnern, Sprossen gegessen zu haben – obwohl in ihrem Salat ein paar dabei waren, sagt der Präsident des Robert-Koch-Instituts. Und viele Menschen hätten sich auch nicht direkt über die Sprossen, sondern über andere Infizierte angesteckt. Für ihn ist der Fall abgeschlossen.
Die Regierung will nun das Infektionsgesetz ändern
Für die Biohofbetreiber Klaus Verbeck und Uta Kaltenbach nicht. Sechs Wochen lang durften sie nichts verkaufen, sechs Wochen lang waren sie damit beschäftigt, Unterlagen für die Behörden zu suchen, Ermittlern Fragen zu beantworten und sie beim Probenziehen zu begleiten. Ihre Felder sehen schlecht aus: Das Unkraut höher als der Lauch, den Sellerie sieht man gar nicht mehr. „Das ist halt so dieses Jahr“, sagt Verbeck. Er lacht nervös.
Auf ihrem Hof ist es still geworden. Die „Keimsprossenhalle“ haben sie bis auf Weiteres geschlossen. Eine der elf Plastiktrommeln, in denen die Sprossen wuchsen – verkauft. Neun der ursprünglich 15 Mitarbeiter mussten sie entlassen. Sie machen nur noch fünf Prozent des bisherigen Jahresumsatzes von 600.000 Euro. Sie sind jetzt der „Ehec-Hof“. Wenigstens sieht die Staatsanwaltschaft keine strafrechtliche Schuld bei den Bauern aus Bienenbüttel.
Zwar waren alle der Hunderte von Proben Sprossen, Wasser oder Saatgut, die auf dem Gärtnerhof genommen wurden, Ehec-O104-negativ. Aber auf Sprossen einer Bienenbütteler Packung aus Königswinter im Rhein-Sieg-Kreis fanden Wissenschaftler den Erreger. Sie wurde im Restmüll einer Familie sichergestellt. „Es spricht vieles dafür, dass sich Mutter und Tochter über die Sprossen infiziert haben“, sagt ein Sprecher der Kreisverwaltung, deren Ämter für Gesundheit und Lebensmittelüberwachung den Fund untersucht haben. Da die Sprossen noch in der Packung steckten, hält der Kreis es für unwahrscheinlich, dass sie von anderen Lebensmitteln in der Küche oder im Müll kontaminiert wurden.
„Ich bin kein Wissenschaftler“, sagt Verbeck nur, wenn man ihm das vorhält. Er bleibt misstrauisch, auch weil ihm die Behörden so gut wie keine ihrer Akten zeigen wollen. Erst müssten diverse Schriftstücke „zum Schutz öffentlicher Belange oder privater Belange Dritter“ aussortiert werden, lässt Burger mitteilen. Doch dafür hätten seine Leute „kurzfristig“ keine Zeit.
Selbst wenn die Theorie der Behörden stimmt, was Verbeck bestreitet: Was könnte er dafür, dass ihnen die verseuchten Samen aus Ägypten geliefert worden sind?
Reinhard Burger sitzt weiter auf seinem Chefsessel im Backsteinbau des Robert-Koch-Instituts. Zwar kritisieren etwa die Grünen die langsame und teils chaotische Reaktion der Behörden auf den Ausbruch – aber kaum Burgers Institut.
Die Bundesregierung will das Infektionsschutzgesetz nun so ändern, dass die Diagnosen binnen vier Tagen bei Burgers Leuten ankommen. Das ist schneller als die bisher erlaubten rund zwei Wochen – aber immer noch langsam. Bislang will die Regierung den Wunsch Burgers nur prüfen, ein Online-Meldesystem einzurichten, das die Daten quasi in Echtzeit vom Arzt an sein Institut übermittelt.
Bei der nächsten Lebensmittelkrise wollen sich die Staatssekretäre von Bund und Ländern in einem Krisenstab und ihre Experten in einer Task-Force besser koordinieren. So hat es die Konferenz der Verbaucherschutzminister Mitte September vereinbart. Über mehr Personal für unterbesetzte Gesundheitsämter, wie es Burger fordert, wird nicht einmal diskutiert.
Seit dem 27. Juni ist Karin Schader wieder zu Hause. Sie muss weiterhin in regelmäßigen Abständen Gedächtnistests machen, sich Bilder merken, Zahlenreihen ergänzen. Wenn sie Paprika gegessen hat und ihr Stuhl blutig wirkt, kriegt sie Panik. Aber seit sie die Neuroleptika absetzen durfte, zittern ihre Hände weniger. Und neulich hat sie festgestellt, dass sie immer noch Fahrrad fahren kann. Wie früher.
■ Heike Haarhoff, 42, taz-Gesundheitsredakteurin, hat die Ehec-Krise für eine Generaldesinfizierung der Kühlschrank-Gemüsefächer genutzt
■ Jost Maurin, 37, taz-Redakteur, schreibt über Land- und Lebensmittelwirtschaft und aß wochenlang keine rohen Gurken oder Tomaten
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