: Die inszenierte Suchaktion
SCHWEIGEN Israel gilt als einzige Demokratie im Nahen Osten. Dennoch beeinflusst sie die Berichterstattung der Medien: durch Nachrichtensperren und Zensur
„HAARETZ“-CHEF ALUF BENN
VON PATRICK WEHNER
Die Hoffnung einer Nation ist vier Worte und einen Hashtag lang: #BringBackOurBoys. Als im vergangenen Sommer drei israelische Teenager im Westjordanland entführt werden, bangt das ganze Land um ihr Schicksal. #BringBackOurBoys steht auf T-Shirts, Schulklassen basteln Transparente, die Frau des Premierministers lässt sich mit einem Plakat fotografieren. Der Hashtag soll bewusst an #BringBackOurGirls erinnern, an die Mädchen, die die islamistische Miliz Boko Haram kurz vorher in Nigeria entführt hatte. Auf der ganzen Welt solidarisieren sich Menschen mit den Jugendlichen und ihren Familien. Es folgt eine bis dahin beispiellose Suchaktion der israelischen Armee – der Anfang einer Entwicklung, die im Gazakrieg mündet.
Zwei Wochen lang durchsuchen Tausende Soldaten das Westjordanland. Zwei Wochen lang schüren israelische Medien die Hoffnung von Millionen Menschen, dass die drei Talmudschüler unversehrt gefunden werden. Und das, obwohl viele der großen Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen schon früh wussten, dass die Teenager wahrscheinlich bereits zu Beginn der Entführung ermordet wurden. Doch darüber durften Journalisten in Israel nicht berichten. Das Oberste Gericht verhängte auf Antrag der Polizeibehörde eine sogenannte Gag-Order – eine Nachrichtensperre.
Wie zweifelhaft die Rolle der Regierung und der Medien in dieser Angelegenheit war, weiß Aluf Benn, der Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung Haaretz. Das Problematischste sei nicht die Nachrichtensperre gewesen, auch wenn sie „äußerst umfassend“ gewesen sei. Sondern die Tatsache, dass die Medien eine Geschichte erfanden. Und zwar die, dass die Jungs leben und zurückgeholt werden können. „Es war eine Inszenierung, wie in einem Theaterstück. Die Medien wussten genau, dass die Geschichte nicht stimmt.“ Die Haaretz gilt als unbequemste Zeitung in Israel. Immer wieder kritisiert sie Politik und Militär, sie hat als einzige israelische Zeitung eine dauerhafte Korrespondentin im Westjordanland. Allein wegen ihrer Berichterstattung im Gazakrieg – sie prangerte die israelischen Luftangriffe wegen ihrer angeblichen Unverhältnismäßigkeit an – verlor die Zeitung laut Benn Tausende Abonnenten. Für viele Israelis gilt die Haaretz als Verräter.
Aluf Benn sagt, die Medien erfuhren durch ihre Kontakte in Sicherheitskreise früh, dass das Militär mindestens zwei der drei Talmudschüler für tot hielt. Die Ermittler hätten diese Annahme auf Blutspuren gestützt, die wenige Stunden nach der Entführung im Auto der Kidnapper gefunden wurden. Außerdem setzte einer der Jugendlichen während der Entführung einen Notruf ab. Auf der Aufnahme ist seine Stimme und die der mutmaßlichen palästinensischen Entführer zu hören, danach mehrere Schüsse, die die drei Schüler vermutlich töteten. Der Mitschnitt wurde, genauso wie die Information über die Blutspuren, erst nach der Militäroperation veröffentlicht.
In diesen zwei Wochen griff noch ein zweites Instrument der israelischen Regierung, um Berichterstattung zu beeinflussen: die Zensur. Seit der Staatsgründung existiert in Israel dafür eigens eine Behörde. Sie ist dem Militär angegliedert, unterliegt nach eigenen Angaben aber ausschließlich dem Obersten Gericht und arbeitet unabhängig von anderen Sicherheitsbehörden. 40 Zensoren bekommen dort alle Artikel zu militärischen oder geheimdienstlichen Belangen vor ihrer Veröffentlichung auf den Schreibtisch. Pro Monat sind das Tausende von Texten. Ein Sprecher sagt gegenüber der taz: „Wir lesen sie und entscheiden, ob sie so veröffentlicht werden dürfen oder nicht. Wir treffen uns mit den Journalisten dabei meistens in der goldenen Mitte.“ Über 80 Prozent der eingereichten Stücke würden nicht beanstandet, der Rest lediglich an „bestimmten Stellen“.
Hauptgrund für Zensur sei die Gefährdung der Staatssicherheit. Im Falle der entführten Teenager zensierte die Behörde dem Sprecher zufolge alle Texte, in denen es um Truppenbewegungen im Westjordanland ging. Zusammen mit der Nachrichtensperre wurde die Presse somit in größtmöglichem Ausmaß an ihrer Arbeit gehindert. „Ein sehr seltener Fall“, wie der Sprecher sagt. Brechen Journalisten die Nachrichtensperre oder umgehen die Zensur, können sie vor Gericht gestellt werden.
Einige israelische Journalisten glauben, dass die Regierung diese Instrumente missbrauchte, um die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu manipulieren. Die Suchaktion hätte lediglich als Vorwand gedient, um eine der größten Militäraktionen im Westjordanland zu legitimieren: Israel habe damit einen Keil zwischen Hamas und Fatah treiben wollen, die wenige Wochen vorher eine Einheitsregierung vereinbart hatten. Im Laufe der „Operation Brothers Keeper“ starben fünf Palästinenser, 350 wurden verhaftet – ein Großteil von ihnen Mitglieder der islamistischen Hamas. Bis heute ist jedoch unklar, ob die Hamas für die Entführung überhaupt verantwortlich war. Partei-Führer in Gaza streiten eine Beteiligung nach wie vor ab.
Noam Sheizaf, Chef-Autor des regierungskritischen Webmagazins +927mag, spricht von einer „großangelegten Manipulation der öffentlichen Meinung“. In einem Kommentar schreibt er, dass trotz der Indizien, die früh auf die Ermordung der Teenager hinwiesen, „der Öffentlichkeit weisgemacht wurde, dass die Teenager von der Hamas festgehalten werden […].“ Auch Haaretz-Chef Benn teilt diese These. „Es war eine gezielte Medienkampagne. Weite Teile der Bevölkerung glaubten, dass es darum geht, die Jungs zu befreien. Und nicht darum, Hamas in der Westbank auszuschalten.“ Als Soldaten nach zwei Wochen ihre Leichen fanden, verscharrt auf kargem Land, änderte sich die Stimmung in der Bevölkerung schnell. Der Schock und die Enttäuschung der Menschen schlugen um in Trauer und Wut.
Wenig später begann der Krieg im Gazastreifen. Mehr als 2.100 Palästinenser, die meisten von ihnen Zivilisten, starben während der 50 Tage dauernden Kämpfe. Auf israelischer Seite kamen 66 Soldaten und sieben Zivilisten ums Leben. Mehr als 96.000 Häuser im Gaza-Streifen wurden beschädigt oder zerstört. 720 Millionen Dollar wurden auf einer internationalen Geberkonferenz für den Wiederaufbau zugesagt. Bislang kamen nach Angaben der UNO aber lediglich 135 Millionen Dollar an.
Doch warum spielten israelische Medien dieses Spiel überhaupt mit? Fürchteten sie sich vor einer Strafe? Vor der Reaktion ihrer Leser? Wieso gibt es keine öffentliche Diskussion über Nachrichtensperren und Zensur? Aluf Benn gibt eine vage Antwort auf diese Fragen: „In Kriegszeiten stehen die Menschen hinter der Regierung, und noch mehr hinter dem Militär. Die Leute identifizieren sich mit den Familien der Opfer.“
Doch auch internationale Medien versagten in diesem Fall als Korrektiv. Innerhalb Israels unterliegen sie ebenfalls Zensur und Nachrichtensperren, was nur sehr selten thematisiert wird – sehen sich westliche Medien doch gerne als Gralshüter der Pressefreiheit. Die New York Times führte letzten Sommer eine interne Untersuchung durch, inwieweit sich ihr Auslandsbüro diesen staatlichen Vorgaben fügt. Das Ergebnis: Bislang hielt sich die NYT immer an Nachrichtensperren. Das sei, „wie sich an Verkehrsregeln zu halten“, so die Chefin des Israel-Büros.
Haaretz-Chef Benn sagt, man müsse als Journalist versuchen, die Nachrichtensperre so oft wie möglich zu umgehen: „Manchmal ist das unmöglich. Und manchmal darf man nur ein paar Details nicht verraten, aber trotzdem die Grundzüge der Geschichte berichten.“ Während der Militäroperation in Westjordanland setzte sich auch die Haaretz nicht über die Nachrichtensperre hinweg. Man habe aber immerhin eine Schlagzeile gehabt, in der es hieß, das Militär fürchte ernsthaft um das Leben der Teenager. „Wir sind so weit gegangen, wie wir konnten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen