ENTSCHULDIGUNGEN GEHÖREN NICHT GERADE ZU DEN KLASSISCHEN TUGENDEN DES KULTURELLEN TÜRKISCHEN GEBARENS: Wenn Erdogan sich für ein Massaker entschuldigt
VON JÜRGEN GOTTSCHLICH
Sich zu entschuldigen ist immer eine gute Sache. Hat man ja schon als Kind gelernt. Was sich im privaten Leben bewährt hat, könnte auch im öffentlichen Leben Gutes bewirken können. Sollte man meinen. Das es auch anders kommen kann, beweist die Türkei.
Vor wenigen Tagen hat sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan entschuldigt. Nicht für eine seiner berüchtigten Pöbeleien gegenüber politischen Konkurrenten, sondern in seiner Person als Ministerpräsident für den Staat als solchen. Es geht um ein Verbrechen des türkischen Staates in den Jahren von 1937 bis 1939. Auf Befehl der damaligen Regierung gingen türkische Truppen mit äußerster Brutalität gegen aufständische Kurden in der Region Dersim vor.
Rund 14.000 Menschen wurden getötet, doppelt so viele verletzt, die Übriggebliebenen wurden größtenteils deportiert. Dersim sollte vollständig verschwinden und heißt seitdem Tunceli. Die Massaker in Dersim gehören zu den dunkelsten Kapiteln der türkischen Republik. Wenn der Staat sich jetzt aufrichtig bei den Nachkommen der damaligen Opfer entschuldigt, könnte, ja, müsste das ein entscheidender Schritt zur Aussöhnung mit der kurdischen Minderheit sein. Doch das Gegenteil ist der Fall. Sich zu entschuldigen gehört nicht gerade zu den Klassikern der türkischen politischen Kultur. Normal ist eher der Angriffsmodus. Wer sich entschuldigt, gilt schnell als Weichei. So war denn auch Erdogans Entschuldigung kein Eingeständnis von Versagen, sondern ein Angriff auf die politische Oppositionspartei CHP. Denn in der fraglichen Zeit war die Türkei ein Einparteienstaat, die Staatspartei war die kemalistische CHP.
Erdogans Entschuldigung sollte deshalb vor allem die CHP treffen, nach dem Motto: Ihr habt die Verbrechen begangen, ihr hättet euch längst entschuldigen müssen. Sie war ein taktisches Manöver und wurde von den meisten Kurden auch so wahrgenommen. Trotzdem ist Erdogans Entschuldigung nicht folgenlos. Es ist das erste Mal, dass ein türkischer Ministerpräsident sich für ein Verbrechen im Namen des Staates entschuldigt hat. Warum dann nicht auch für den Genozid an den Armeniern, fragen jetzt nicht nur Betroffene, sondern auch viele Kolumnisten. Oder wegen der Pogrome gegen die Griechen 1955?
Der Geist ist aus der Flasche. Damit rückt der Zeitpunkt näher, zu dem es auch in der Türkei zu echten Entschuldigungen für Verbrechen in der Vergangenheit kommen wird. Und das ist unbedingt eine gute Nachricht.
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