: Fünf Gründe für eine Rudi-Dutschke-Straße
Friedrichshain-Kreuzberg diskutiert die Umbenennung der Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße. Dazu lud das Bezirksamt am Dienstagabend Christian Semler als Zeitzeugen aufs Podium. Dokumentation einer Rede
VON CHRISTIAN SEMLER
Als Mitglied des Berliner Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) habe ich in den 60er-Jahren zum Teil eng mit Rudi zusammengearbeitet. Obwohl ich in vielen Dingen anderer Meinung war, mochte ich ihn, den etwas Jüngeren, gern, mochte seinen Optimismus, seinen Tatendrang. Nach dem Attentat auf ihn, Ostern 1968, nach der Blockade des Springer Verlags, habe ich ihn mehrfach in Italien besucht. Dann, als die Studentenbewegung zerfiel, schloss ich mich einer maoistischen Parteiinitiative, einer „K-Gruppe“ an, und zwischen uns herrschte ein paar Jahre Funkstille. Mitte der 70er-Jahre trafen wir uns wieder, um die linksdemokratische Opposition in Osteuropa zu unterstützen. Gegen Ende der 70er-Jahre diskutierten wir, unter welchem Stern eine künftige grün-alternative Partei stehen sollte. Er wollte ein Bündnis, das rechte, wertkonservative Kräfte einschloss, ich eines, das sich auf linke und auf radikaldemokratische Kräfte stützte. Wie sich die grüne Partei, in der er bestimmt eine wichtige Rolle gespielt hätte, entwickelte, hat er bekanntlich nicht mehr erlebt.
Fünf Punkte, bei denen es um Rudi Dutschkes politisches Leben geht, sprechen dafür, mit der Benennung einer Straße nach ihm seiner zu gedenken.
1. Die Identifikationsfigur
Rudi Dutschke war einer der bekanntesten Persönlichkeiten der außerparlamentarischen Opposition. Für die Generation der 68er entwickelte er sich zu einem der wichtigen politischen Sprecher, für die gesamte Jugendbewegung der damaligen Zeit wurde er zur Identifikationsfigur. Er verfügte über viel Charisma, bewegte sich aber nicht in einer Aura der Abgehobenheit, sondern kümmerte sich um seine Mitstreiter und die Leute, die sich an ihn wandten. Er war – so etwas gibt es – ein menschenfreundlicher Linksradikaler.
Auch als die Medien ihn hochhievten, entwickelte er keine Starallüren. Seine oft verschachtelte Sprache, mittels deren er immer das Allgemeine mit der konkreten Situation zusammenzwingen wollte, unterschied sich nicht, ob er nun eine Gespräch führte, auf einem Teach-in redete oder in der Glotze auftrat. Was er sagte, war häufig schwer verständlich, aber seine Zuhörer fühlten, dass er es ehrlich meinte. Er war und wirkte authentisch. Wer mit ihm zu tun hatte, fühlte sich oft aufgerufen, in seinem jeweiligen Milieu und mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die autoritären Mauern anzurennen, sei es in der Familie, der Schule, der Uni, am Arbeitsplatz oder in anderen Institutionen. Manchmal hatte das Züge einer Erweckungsbewegung, aber es gab kein kritikloses Führer-Jünger-Verhältnis. Die Botschaft, die „herüberkam“, lautete einfach: Linke Praxis ist möglich.
2. Das Fenster zur Welt
Für Rudi Dutschkes Denken und politische Wirksamkeit in Berlin war entscheidend, dass er ein Fenster zur Welt aufstieß. Westberlin hatte sich 1948 während der Blockade nicht kleinkriegen lassen, 1953 hatten sich die Arbeiter in Ostberlin gegen den Stalinismus erhoben. Aber mit der Zeit war diese demokratische Selbstbehauptung einer heroischen Selbststilisierung gewichen, einem Mythos, der natürlich nach dem Bau der Mauer neue Nahrung erhielt.
In dieser Situation wurde der Protest gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam für große Teile der Westberliner Bevölkerung zu einer schwer erträglichen Provokation, ging er doch gegen eine der Schutzmächte, denen sie ihre Freiheit verdankten. Viele Berliner setzten ein Gleichheitszeichen zwischen Berlin und Saigon. Dutschke und die Antiimperialisten dagegen beharrten darauf, dass nicht nur in Asien, sondern auch in Afrika und Lateinamerika nationale Befreiungsbewegungen am Werk waren, die sich gegen koloniale und neokoloniale Unterdrückung zur Wehr setzten. Für Dutschke waren diese Bewegungen von einem Impuls geleitet, der gerade nicht im Gegensatz zu den Grundlagen der amerikanischen Demokratie stand, wohl aber zu deren aktueller imperialistischer Ausprägung.
Sicher war die Sicht von Dutschke und seinen Freunden auf die „Dritte Welt“ insofern von Wunschdenken geleitet, als sie den nationalen Befreiungskampf nahezu in eins setzten mit Demokratie und sozialer Emanzipation. Jedoch war es gerade diese Weitung des Blicks auf die arme Welt hin, auf die Notwendigkeit einer radikal neuen Beziehung der Industrieländer zu den „Verdammten dieser Erde“, die den Zeitablauf überdauert hat und die sich heute wieder in Bewegungen wie den Weltsozialforen manifestiert.
Dutschke unterstützte alle, auch die bewaffneten Formen des antiimperialistischen Widerstandes. Ich kann aber mit Bestimmtheit sagen, dass er die Vorstellung, die Gewalt der Unterdrückten sei produktiv und ermögliche ihnen erst wirklich, Menschen zu sein, abgelehnt hat.
3. Der Basisdemokrat
Rudi Dutschke war Anhänger einer direkten, einer Basisdemokratie. Die Beliebtheit, deren sich im Milieu der späten 60er-Jahre die Rätedemokratie als Alternative zur parlamentarischen Demokratie erfreute, war nicht nur die Frucht angestrengten Quellenstudiums zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie speiste sich auch aus einer politischen Situation, in der es praktisch keine politisch-parlamentarische Kraft gab, der man sich hätte anschließen können. Es war die Zeit der großen Koalition und der Notstandsgesetze, die von dieser durchgepeitscht wurden.
Für Rudi Dutschke wie für viele seiner Mitstreiter rutschte die Bonner Republik auf einer schiefen Ebene in Richtung des autoritären Staates. Gegenwehr war geboten, und sie konnte nach Auffassung der Linken nur in gesellschaftlicher Gegenwehr bestehen. Diese Haltung verband sich mit der Vorstellung, schon im Rahmen des kapitalistischen Herrschaftssystems könnte es „befreite Gebiete“ geben, Fabriken oder Ausbildungsstätten, wo Selbstverwaltung und unmittelbare Demokratie herrschten.
Der „lange Marsch durch die Institutionen“, den Dutschke in Anlehnung an das chinesische Vorbild propagierte, bedeutete eben nicht Anpassung an die vorgefundenen Institutionen, sondern Subversion, Zerbrechen der Zwänge, Umgestaltung im Sinn der Selbsttätigkeit. Schon aus dieser Vorstellung geht hervor, dass Dutschke eine bewaffnete Revolution abgelehnt hat. Natürlich hatte die Sprache, die er gebrauchte, ihre Zweideutigkeiten, zum Beispiel wenn von der Guerilla unter unseren Bedingungen die Rede war. Und natürlich war die Trennungsformel „Gewalt gegen Sachen – ja; gegen Personen – nein“ untauglich. Aus eigenem Erleben kann ich die Skrupulosität Dutschkes in dieser Frage bezeugen. Hatte er doch schon Bedenken bei Eierwürfen auf das Amerika Haus, von Straßenschlachten wie der am Tegeler Weg Ende 1968 ganz zu schweigen.
Die Kritik an der bürgerlichen Demokratie hatte ihre gefährliche Seite, verkannte sie doch den zivilisatorische Fortschritt, den Institutionen wie die des Rechtsstaats, der Gewaltenteilung und der demokratischen Institutionen nun mal bedeuten. Aber die Kritik an der angemaßten Allmacht des Parteienstaates wie der Akzent auf der Wirkungsmacht gesellschaftlicher „sozialer“ Bewegungen haben nichts an Aktualität verloren.
4. Das Ende der Spaltung
Man hat häufig den Versuch Dutschkes belächelt, unter Rückgriff auf die großen Verfemten der Arbeiterbewegung, auf Georg Lukács, auf Karl Korsch, auf die frühe Frankfurter Schule, auf die linken Radikalen der 20er- und 30er-Jahre so etwas wie eine Theorie zu basteln, die dem Test der zeitgenössischen Realität standhalten könnte. Das alles mutet uns heute sehr fremd an und ist es auch. Dutschke ging es aber vor allem darum, die toten Rebellen wider die Parteiorthodoxie zu Zeugen aufzurufen, mit ihnen zu reden, sie zu Mitstreitern zu machen. Er wollte nicht in den Mainstream der ML-Orthodoxie, des Sowjetmarxismus und seiner Ableger einbiegen. Zur Sowjetunion hatte er ein durchgängig kritisches Verhältnis. Er begriff sie als despotisch.
Auch die viel und kontrovers diskutierte Haltung Dutschkes zur „nationalen Frage“ folgte einem vergleichbaren Impuls. Für Dutschke setzten sozialistisches Denken und sozialistische Praxis in Deutschland voraus, dass die Herrschaft des Status quo, garantiert durch die beiden Supermächte, zerbrochen würde. Zwei getrennte und dennoch aktionsfähige soziale Bewegungen schienen ihm in Deutschland ein faktisch unsinniges Unterfangen. Insofern hingen für ihn die Überwindung der Spaltung und die soziale Emanzipation untrennbar zusammen.
5. Die radikale Alternative
Heute kann man schon froh sein, wenn sich in der Gesellschaft Deutschlands Widerstand zur Verteidigung des „rheinischen Kapitalismus“, also der „sozialen Marktwirtschaft“, regt. Es gilt, noch vorhandene Errungenschaften zu verteidigen, den Kahlschlag zu verhindern. All das ist sicher richtig, entbindet uns aber nicht von der Aufgabe, auch einer radikalen Alternative Raum zu geben, mag sie uns heute auch noch so ortlos erscheinen. Dutschke stand für eine solche Alternative. Er hat sich in die Bresche geworfen und er hat dafür bezahlt. Solche Leute sind rar in Deutschland. Wir sollten uns seiner erinnern – zum Beispiel mit der Rudi-Dutschke-Straße.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen