Religiöses Dynamit am Tempelberg

■ Wo Islam und Judentum direkt nebeneinander leben

Stiefelschritte dröhnen durch die Gassen, dazu Gesang: „Schalom alechem“ – Friede sei mit Euch. Der Weg der israelischen Rekruten führt durch die arabische Altstadt Jerusalems. An der Westmauer des zweiten jüdischen Tempels schwören die Soldaten ihren Eid. Daneben stehen orthodoxe Juden mit Hut und Schläfenlocken und beten. Ihre Oberkörper pendeln dabei zur Mauer, dem heiligsten Bauwerk der Juden. Rechts von der Szenerie bewegen sich gleichzeitig auf einem mit Stacheldraht umsäumten Pfad Muslime auf die Spitze der Mauer zu: Auf den Trümmern des ersten und zweiten jüdischen Tempels steht das Haram asch-Scharif: Die al-Aksa-Moschee und der Felsendom, zwei der größten Heiligtümer der Muslime.

Nirgendwo wird der jüdisch- islamische Konflikt so deutlich wie auf diesem etwa einen Viertel Quadratkilometer großen Areal.

Im 10. Jahrhundert vor Christi ließ König Salomo hier den ersten jüdischen Tempel bauen. Knapp 400 Jahre später wurde er von den Truppen des Babylonierkönigs Nebukadnezar wieder zerstört, und die Juden wurden nach Babylon verschleppt. Ihnen gelang die Rückkehr und der Wiederaufbau des Tempels.

637 eroberte der in Europa als Saladin bekannte Salah ad-Din al-Ajubi Jerusalem an der Spitze eines islamischen Heeres. Die Muslime identifizierten einen Felsbrocken auf dem Tempelareal als Sprungbrett Muhammads in den Himmel. Der Stifter des Islam soll nach seinem Tod in Medina (632) auf wundersame Weise hierhin versetzt worden und dann mit einem geflügelten Hengst in den Himmel geflogen sein. Auf dem Felsen sind angeblich die Spuren des letzten irdischen Hufabdrucks zu erkennen.

Anfang des siebten Jahrhunderts wurde wenige hundert Meter davon entfernt der Grundstein zur al-Aksa-Moschee gelegt, Ende des Jahrhunderts direkt über dem Stein der prächtige Felsendom fertiggestellt.

Die ungewollte architektonische Verzahnung der jüdischen und muslimischen Heiligtümer macht eine geographische Trennung der Religionen unmöglich.

Der Ort war wiederholt Szenerie blutiger Auseinandersetzungen. 1951 wurde vor der al- Aksa der jordanische König Abdallah ermordet. Und im Oktober 1990 erschossen israelische Militärs auf dem Gelände des Haram asch-Scharif 19 Palästinenser – kurz nach dem Gebet in der al-Aksa. Thomas Dreger