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Wo Stille und Versöhnung Wahnsinnsdinger sind

■ In Stuttgart sammelten sich 70.000 Jugendliche zum Europäischen Taizé-Treffen

Stuttgart (taz) – In Halle 4 auf dem Messegelände des Killesbergs beginnt gleich das Mittagsgebet. Schon eine Viertelstunde zuvor ist auf dem harten Hallenboden kaum noch ein Plätzchen frei. Überall liegen ausgebreitete Schlafsäcke oder Isomatten, auf denen junge Frauen und Männer sitzen oder knien. Die gemeinsame Lobpreisung ist für viele der 70.000 Jugendlichen, die zum Europäischen Taizé-Jugendtreffen nach Stuttgart gekommen sind, vielleicht das Wichtigste überhaupt. „Weißt du“, erzählt ein Mädchen, „das gemeinsame Beten, alle zusammen, das ist schon ein Wahnsinnsding. Das haste zu Hause nie.“

Sowieso nicht, denn die Gebete bei einem Taizé-Treffen – dreimal täglich finden sie statt – ähneln kaum denen, die einem als Gebet in Schule, Kommunions- oder Konfirmationsunterricht nahegebracht wurden. Beten meint hier vor allem Gesang. Meist eine einfache Melodielinie, die immer und immer wieder wiederholt wird. Der Text besteht aus nur einem Satz, der in verschiedenen Sprachen einen wichtigen biblischen Gedanken zum Ausdruck bringt. In ihrer Schlichtheit erinnern die „Gesänge aus Taizé“ an die Gesänge der Gregorianik.

Das wirkt beruhigend, ja meditativ. Vor allem, wenn dann ein Luftzug die orangenrot schimmernden Tücher hinter der zum großen, aber schlichten Altar umgebauten Bühne aufbläst wie der Wind die Segel eines Schiffes – nur viel sanfter. Wo andernorts Dogmen von der Kanzel herabposaunt werden, herrscht bei Taizé andächtige Stille.

„Man kommt hier viel mehr zum Nachdenken“, sagt Michael, 20 Jahre und Student in Stuttgart. Früher war er Mitglied in der Katholischen Landjugend in seiner bayerischen Heimatgemeinde. Dort hat er sich in seinem Glauben eingezwängt gesehen. Hier, beim Taizé-Treffen, da „wird einem nicht alles vorgegeben“. Vielleicht ist es genau das, was Jugendliche so hinzieht zu und nach Taizé, das mehr ist als der Name eines Ortes im nordfranzösischen Burgund – ein Zauberwort unter christlichen Jugendlichen.

„Wir hätten nie gedacht, daß wir so viele junge Menschen anziehen würden“, sagt Frère Emile, einer der rund 100 Mönche der Taizé- Gemeinschaft. Das klingt kokett und rührend zugleich. Was der Bruder meint, ist, daß Taizé ein Ort sei, wo den Jugendlichen gezeigt werde, „wie man Glauben leben kann“. Verantwortung sei dabei ein wichtiges Wort – auch in eigener Sache. Bei Taizé-Treffen tragen die Teilnehmer selbst die Last der Organisation bei der Essensausgabe, beim Müllsammeln oder bei der Reinigung der Hallen. Während der Tage hat sich knapp die Hälfte der Teilnehmer irgendwann einmal für ein paar Stunden nützlich gemacht.

Aber auch das Wort Versöhnung wird ernst genommen – und ausführlich diskutiert. Bei Taizé, auch bei dem Treffen in Stuttgart, geht es nicht um kirchentagsstrapazierte Themen wie Geburtenregelung oder Sex vor der Ehe, sondern um Fragen wie die, worin die Quelle des Glaubens liege.

„Verzeihen kann politische Konsequenzen haben. Wenn man die Spirale von Haß und Gewalt durchbricht“, merkt Frère Emile an. Clemens aus Bruchsal, der mit seinen 32 Jahren schon zu den älteren Besuchern zählt, ergänzt: „Ich bin überrascht, wie gut es möglich ist, daß so viele Menschen zusammenarbeiten.“ Frank Ketterer

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