: Wenn der Lehrer in der Schule deutschen Fleiß verlangt
Vor sechs Jahren jagten rechte Rabauken und brave Bürger die Flüchtlinge aus der Stadt. Heute finden es schon Schulkinder normal, rechts zu sein. Hoyerswerda und Fürstenwalde sind zwei ostdeutsche Städte, deren Entwicklung zeigt, daß Fremdenhaß und Gewalt nicht als Jugendproblem zu behandeln sind ■ Von Andrea Böhm
Nein, den Plattenbau läßt sie sich nicht schlechtreden. Sie war 13 Jahre alt, als ihre Eltern hierher zogen. Mit dem Aufbau der Neustadt ist sie großgeworden. Zehn Wohnkomplexe hatte man hier gebaut mit Schulen und Kindergärten – die üblichen grauen Quader, die aussehen, als hätte der liebe Gott an einem depressiven Tag Lego gespielt. Nein, den Gefallen tut sie einem nicht, „ein gestörtes Verhältnis“ zu dieser architektonischen Tristesse zu entwickeln. 70 Quadratmeter mit Warmwasser, Bad und Heizung – danach hatte man sich damals die Finger geleckt. Zu eng war es hier keinem. Den Erwachsenen nicht, denn die waren von früh bis spät arbeiten; den Kindern nicht, denn die steckten im Kindergarten und in der Schule.
Aber dann kamen mit der Wende Zeiten, auf die der Plattenbau samt realsozialistischem Versorgungskonzept seiner Bewohner nicht vorbereitet war. Die Leute warteten auf „blühende Landschaften“, wurden arbeitslos, verbrachten die Tage mit ein paar Bier und der geistigen Suche nach dem eigenen Platz in der neuen Hackordnung. „Plötzlich“, sagt Helga Nikich, „hing man auf dem Balkon rum und störte sich an den ,anderen‘.“
Vor genau sechs Jahren waren die Balkons in der Thomas-Müntzer-Straße begehrte Plätze, um dem ersten deutschen Pogrom nach 1945 zuzusehen – und Beifall zu klatschen. Jugendliche hatten zuerst die Wohnungen von Vertragsarbeitern aus Mosambik und Vietnam in der Albert-Schweitzer- Straße mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen und waren dann zu den Unterkünften von Asylsuchenden in der Thomas- Müntzer-Straße weitergezogen. Drei Tage und Nächte flogen Steine und Brandsätze, deren Nachschub unter anderem von Mitgliedern der inzwischen verbotenen rechtsradikalen „Deutschen Alternative“ organisiert worden war. Drei Tage wurde gegrölt, getrunken, geglotzt und debattiert. Einige wenige versuchten die Menge zu beruhigen. Das Fernsehen war da, die Polizei war da, und aus anderen Städten und Städtchen kamen Schaulustige angereist und solche, die mitmachen wollten. Am Ende wurden die Flüchtlinge in Bussen aus der Stadt geschafft, und Hoyerswerda hat sich seitdem in das Gedächtnis der Republik eingeprägt.
Diese Tage im September 1991 waren eine Zäsur auch im Leben von Helga Nikich. Drei Monate später hängte sie ihren Posten als stellvertretende Schulrektorin an den Nagel und übernahm die Leitung der neugegründeten Regionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen (RAA) in Hoyerswerda. Sie bringt beste Voraussetzungen mit: zupackend, einnehmend und mit jener Dosis Ruppigkeit ausgestattet, die ihr bei der Durchsetzung von Projekten eine Menge Zeit und Einwände erspart.
Seit ihrem Amtsantritt übt sie mit ihrer meist jugendlichen Klientel vor allem zweierlei: Toleranz und eine Eindämmung des Impulses, Ausländer für alle Widrigkeiten in ihrem Leben verantwortlich zu machen. Derer gibt es genug in Hoyerswerda mit seinen 58.000 Einwohnern, wo ein Viertel aller Jugendlichen arbeitslos ist, die gesamte Arbeitslosenrate bei 20 Prozent liegt und immer mehr Menschen sich mit Abwanderungsgedanken tragen. Das Problem ist, daß es Helga Nikich gewissermaßen an Anschauungssubjekten fehlt. „Machen Sie mal was in einer Schule zum Thema Ausländer, wenn keine da sind,“ sagt sie in einem Tonfall, der resoluten Pragmatismus verrät. „Neulich mußte ich ein paar Türken aus Kiel einfliegen lassen. Die haben erst mal geschluckt, als sie den Namen Hoyerswerda gehört haben.“
Zusammen mit einer Mitarbeiterin und einer ABM-Kraft jongliert Nikich in ihrem Büro im „WeKa2“ zu jedem beliebigen Zeitpunkt 20 bis 30 Projekte. Sie initiiert multikulturelle Studienwochen mit ausländischen Gastschülern; sie bugsiert junge Langzeitarbeitslose in ABM- und Umschulungsmaßnahmen; sie hat fünf Schülerklubs aufgebaut und mit Schulen in Hoyerswerda Hilfsaktionen für Bosnien angeschoben; sie ist längst Expertin im Schreiben von Finanzierungsanträgen, sitzt im Präventionsrat der Stadt, organisiert jeden Sommer preisgünstige Ferienfahrten für rund 1.000 Kinder und Jugendliche aus Hoyerswerda nach Tschechien. Dort erwarten sie einheimische Leiter der Sommercamps, „damit unsere auch mal lernen, sich tschechischen Betreuern unterzuordnen“. Es ist eine Strategie der kleinen Schritte, der langsamen Gewöhnung an eine Welt, in welcher der Stolz, ein Deutscher zu sein, die wenigsten Probleme löst. 1991, das weiß sie, „wird immer ein Makel bleiben. Aber ich möchte demonstrieren, daß man als Ausländer wieder hierherkommen kann.“
Die müssen allerdings aus besonderem Holz geschnitzt sein, wenn es nach Ernesto Milice geht. Milice kommt aus Mosambik, hat eine illustre Karriere als Bergbauingenieur im Braunkohlerevier Schwarze Pumpe, als Botschaftssekretär und Sozialarbeiter hinter sich. Heute verkauft er in Hoyerswerda Einbauküchen für den Plattenbau, „zwosiebzehn mal zwosiebzehn“. Über die Vorzüge seines Modells „Bianco“ für 3.000 Mark spricht der 36jährige mit demselben geschäftstüchtig-jovialen Gesichtsausdruck wie über jene Nächte, als der Mob unter anderem seine Landsleute aus der Stadt jagte. Damals war er Betreuer der Asylsuchenden, stand nächtelang auf der Straße, debattierte mit den Deutschen, hielt die Flüchtlinge davon ab, kochendes Wasser auf die Angreifer zu gießen. Es wäre, sagt er heute, nie so weit gekommen, hätte die Polizei die Attacken nicht viel zu lange als „Jugendspaß“ angesehen und die Medien durch ihre Fernsehbilder nicht so viele Schaulustige angelockt. Auf den Gedanken, nach dem Pogrom selbst wegzuziehen, ist er nie gekommen.
Wenn Ernesto Milice heute über den homo germanicus im allgemeinen und die Hoyerswerdaer im besonderen redet, dann tut er das mit dem Gestus eines erfolgreichen Dompteurs: Solange man die Deutschen nicht reizt, sind sie eigentlich friedlich. Aber, sagt Milice mit abgeklärtem Lächeln, „die Leute hier sind gefrustet, haben Angst um ihre Zukunft und ihre Existenz. Wer würde nicht sauer werden, wenn plötzlich rumänische Asylbewerber jeden Monat ein paar tausend Mark abkassieren. Oder wenn ein Türke hier als Unternehmer mit 'nem Mercedes auftaucht...“ Milice fährt immer noch Trabant. Wenn sie ihn auf der Straße „Dachpappe“, „Brikett“ oder „Neger“ rufen, dann ignoriert er das – und man muß die Anpöbeleien ignorieren können, wenn man mit dunklerer Hautfarbe hier bestehen will.
Ein paar Plattenbauten weiter, im Wohnkomplex 8, findet man das Unternehmen des Türken mit dem Mercedes. „Habe ich nie gefahren“, sagt Izzet Aydogdu, und verweist auf seinen alten Transporter. Im Frühjahr 1991 war Aydogdu mit seiner Lebensgefährtin Ursula Bielack aus Berlin in deren Heimatstadt Hoyerswerda gezogen, um die Ostdeutschen mit Döner Kebap zu versorgen. Noch im gleichen Monat wurde Bielacks Sohn Frank von Skinheads ins Koma geprügelt, als er einen türkischen Mitarbeiter ins Wohnheim begleitete. Die Pogromnächte im September überstand der kleine Imbiß unbeschadet. Rechtsradikale stärkten sich am Dönerstand, bevor sie zum nächsten Angriff in die Thomas-Müntzer-Straße zurückrannten.
In den folgenden Monaten und Jahren konzentrierten sich die Glatzköpfe wieder auf Aydogdus Imbiß: Brandanschläge, Schutzgelderpressungen, Bedrohungen des Personals als „Türkenhuren“ – und ein Raubüberfall durch 15 Skinheads am hellichten Tag. Aydogdu und Bielack blieben stur, eröffneten weitere Restaurants und Imbißstuben, stellten sogar ein paar Rechtsradikale ein. „Die blieben vier, fünf Monate.“ Es folgten ein paar Jahre relativer Ruhe. Die Stammkundschaft aus den umliegenden Hochhäusern schätzte die türkische Fastfood-Küche, die preislich unter jedem Kombi-Menü von McDonald's liegt.
Die Nachfrage stieg – einer von Aydogdus türkischen Mitarbeitern machte sich selbständig und eröffnete unweit seines alten Arbeitsplatzes das „Merhaba“, ein türkisches Imbißrestaurant. Dem warfen Rechtsradikale vor wenigen Wochen während ihres alljährlichen Gedenkens an den Todestag von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß sämtliche Scheiben ein und sprühten rassistische Parolen.
Manchmal, sagt Izzet Aydogdu, täte ihm sein Pioniervorstoß in den feindlichen Osten schon leid – zumal auch nach sechs Jahren Knochenarbeit sowohl seine Gewinnspanne wie seine körperliche Unversehrtheit davon abhängen, ob bei gewissen Gästen der Haß auf „Undeutsche“ oder der Appetit auf einen Döner überwiegt. Gewiß, es ist die Minderheit – aber die agiert nach seiner Ansicht nur aus, was die Mehrheit denkt und sagt. „Ich bin für viele Gäste der nette Türke, wahrscheinlich, weil meine Frau von hier ist.“ Aber das hält immer weniger davon ab, in seinem Beisein ganz ungeniert den Rausschmiß aller anderen Ausländer zu fordern.
In Senftenberg, einer Nachbarstadt von Hoyerswerda, hat er nun sein nächstes Imbißrestaurant eröffnet. Auf ein halbes Dutzend Stellen bewarben sich über 100 Arbeitssuchende. „Die älteste“, erinnert er sich, „war 66. Da sollte man doch längst auf Rente sein.“ Bislang hat man ihm, dem erfolgreichen türkischen Unternehmer, der Deutschen Arbeit gibt statt für sie zu malochen, in Senftenberg nur die Blumenkübel umgekippt und die Erde an die Fenster geschmiert. Das ist nach seinen Maßstäben eher harmlos. Aber Izzet Aydogdu hat ein ungutes Gefühl, was die Zukunft angeht.
Wer im deutschen Osten als Ausländer erkennbar ist, „muß zur Zeit ein eingeschränktes Leben führen“, sagt Almuth Berger, Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg. Soll heißen: man meidet bestimmte Straßen, hält sich von Bahnhöfen, einem typischen Treffpunkt rechter Jugendlicher, fern; Kinos, Schwimmbäder oder Kneipen gelten in kleineren Städten ebenso als „Gefahrenzonen“ wie viele Jugendklubs.
Ein Alltag, der in mancher Hinsicht an den amerikanischen Süden vor 30 Jahren erinnert: Wer mit einer anderen als der weißen Hautfarbe diktierte Grenzen übertritt, riskiert Leben oder Gesundheit. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ist die Zahl rassistisch motivierter Straftaten im ersten Halbjahr 1997 um 8 bis 10 Prozent gestiegen, wobei die Gewalt in den neuen Bundesländern deutlich stärker zunahm als in den alten. Dort ist die bevorzugte Gruppe der Opfer so klein, daß die Wahrscheinlichkeit eines Ausländers, mehrmals angegriffen zu werden, zunehmend steigen dürfte. In Brandenburg stellen sie gerade 2,2 Prozent der Bevölkerung.
Nach einem Rückgang ausländerfeindlicher Übergriffe in den Jahren 1994/1995, dem das staatliche Verbot mehrerer rechtsradikaler Organisationen vorausging, verzeichnet man heute ein neues Phänomen: rechts, national und ausländerfeindlich zu sein ist unter Jugendlichen nicht mehr extrem, sondern normal. Man versteht die eigene Haltung nicht mehr als politisch. Die Anbindung an eine rechtsradikale Partei ist den meisten nicht wichtig. Wichtig ist, in der Clique Gleichgesinnter Spaß zu haben, Musik rechtsradikaler Bands mit Namen wie Freikorps, Noie Werte oder Kahlschlag zu hören, am Computer durch rechte Websites im Internet zu surfen – und dafür zu sorgen, daß die eigenen Treffpunkte von Ausländern, Punks sowie „undeutscher“ Musik wie Reggae oder HipHop „saubergehalten“ werden.
Politisch organisierte Rechtsextreme, die sich mittlerweile bevorzugt in dezentralen „Kameradschaften“ zusammenschließen, haben dies längst in eine Strategie mit Anleitung und Titel umformuliert: die Schaffung „national befreiter“ oder „ausländerfreier Zonen“. Was vor sechs Jahren in Hoyerswerda noch ein Medienspektakel war, das landesweit Entsetzen auslöste, geschieht heute sehr viel schleichender und selbstverständlicher. Die „Strategie der kulturellen Hegemonie“ nennt dies der Kriminologe Bernd Wagner, der schon zu DDR-Zeiten die rechtsextreme Szene im damals noch existierenden Sozialismus beobachtete und heute unter anderem im Mobilen Beratungsteam (MBT) der brandenburgischen Ausländerbauftragten arbeitet. Das MBT fungiert mit seinen drei notorisch überlasteten Mitarbeitern als eine Art zivilgesellschaftlicher Katastrophenschutz: in Jugendklubs, deren Mitarbeiter plötzlich eine massive Präsenz von Skinheads verzeichnen; an Schulen, wo nach den Ferien ein halber Jahrgang mit kurzgeschorenem Schädel und Bomberjacken auftaucht; zu Projekttagen, wo Fragen diskutiert werden wie „Sind Deutsche mehr wert als andere?“.
Wo sich einem Sozialkundelehrer in Hamburg oder Dortmund die Nackenhaare sträuben würden, zeigen Wagner und seine Mitarbeiter Diskussionsbereitschaft. „Diese Meinungen zu verdrängen oder zu stigmatisieren hilft nicht. Man muß sich ihnen stellen – aber gleichzeitig klare Grenzen setzen.“ Nicht nur den Schülern. Auch vielen Lehrern gegenüber, die allzu oft die Jungen mit ihrem Haß auf Ausländer „irgendwie verstehen“ können. Auch Sozialarbeitern gegenüber, die jeden rechtsradikalen Schläger für ein Opfer seiner „Fehlsozialisation“ halten, das Zuwendung braucht. Auch bei vielen Eltern. Auch zu Hause, sagt Wagner, werde zunehmend „völkisch gedacht“ und – unterfüttert von Medien und Politikern – argumentiert: An der Hochwasserkatastrophe diesen Sommer waren die Polen schuld; an den Plünderungen, die nie stattfanden, ebenfalls; Kriminalität ist ein Ausländerthema; die multikulturelle Gesellschaft eine Gefahr, die auch westliche Politiker, die den Ossis sonst allerlei Verhaßtes aufgezwungen haben, nicht wollen. „Wieso bestrafen Sie denn unseren Jungen?“ empörte sich ein Elternpaar aus Berlin- Treptow bei der Leiterin eines Jugendklubs, nachdem der Sohn Zutrittsverbot erhalten hatte, weil er – unter anderem – einen dunkelhäutigen Sozialarbeiter fortgesetzt beschimpft hatte. „Das ist doch Ihr Problem, wenn Sie hier Neger einstellen.“ Eine Zivilgesellschaft, konstatiert Wagner lakonisch, „gibt es nicht. Was es gibt, sind Spielräume, die man nutzen muß.“
Patrick Siebert ist 17 Jahre alt und heißt eigentlich anders. Eine drastische Einengung seiner Spielräume läßt es ihm geraten erscheinen, mit richtigem Namen nicht in der Zeitung zu stehen. Er lebt in Fürstenwalde, einer Stadt mit 35.000 Einwohnern auf halbem Weg zwischen Berlin und Frankfurt (Oder), die letztes Jahr durch einen Überfall von Skinheads auf den Dönerstand eines Libanesen überregional Schlagzeilen gemacht hatte. Patrick kleidete sich bis vor kurzem gemäß seinen musikalischen Vorlieben und seinem Lebensgefühl als Punk. Bunte Haare, bunt bemalte Stiefel, Palästinensertuch. In Fürstenwalde, wo die Mitarbeiter des MBT 40 Jugendliche als „sozial organisierte“ Skinheads sowie einen Zweig der rechtsradikalen „Nationalen e.V.“ ausgemacht hatten, definierte sich Patrick mit seinem Outfit in den Bereich der „linken Zecken“. Zumal man ihn bei einer Mahnwache vor dem örtlichen Flüchtlingswohnheim fotografiert hatte und er auch noch bei einer Talkshow der schwarzen Moderatorin Arabella Kiesbauer mitgemacht hatte. Da ging es um die unverfängliche Frage „Bin ich fernsehsüchtig?“. Daß er sich zu einer „Negerin“ ins Studio setzte, brachte ihm noch mehr Aufmerksamkeit der Rechten ein. Im November letzten Jahres, nachdem ihn ein Trupp Skinheads, darunter ein alter Kumpel von ihm, durchs Treppenhaus in seine Wohnung gejagt hatte, hatte er „die Schnauze voll“. Die bunten Stiefel und das Palästinensertuch kamen in den Schrank, die Haare wurden auf Backstreet Boys gestylt. Seine Freizeit verbringt er seitdem überwiegend zu Hause oder in Berlin. Nicht einmal bei der „Demo gegen Gewalt“, die Jugendliche nach einem Überfall von Skinheads auf eine kirchliche Jugendgruppe im Fürstenwalder Dom initiiert hatten, ist er mitgelaufen. 500 Jugendliche gingen auf die Straße. Das ist mehr als andere, größere Städte nach rassistischen Überfällen auf die Beine brachten – auch wenn es nicht „die schweigende Mehrheit war, die endlich den Mund aufmachte“, wie ein Lokalkommentator schrieb.
Fürstenwalde ist ein Schwerpunkt der Arbeit des Mobilen Beratungsteams. Hier sind Streetworker im Einsatz, die mit rechten Jugendlichen arbeiten; hier hat man mit einer Geschichtswerkstatt, in der über den Nationalsozialismus ebenso debattiert wird wie über die Texte rechtsextremer Musiker, einige Weltbilder so sehr ins Wanken gebracht, daß sich die „Nationalen e.V.“ ihrerseits bemüßigt fühlen, abtrünnigem Nachwuchs „offene Jugendarbeit“ anzubieten. Hier leben immerhin 1.000 Ausländer, die sich trotz einer fortgesetzten Serie von Übergriffen und Parolen wie „Wir kämpfen Fürstenwalde dönerfrei“ nicht den Mut haben nehmen lassen, öffentlich einen Ausländerbeirat zu fordern oder gegen die Verschärfungen der Asylgesetzgebung zu protestieren. Hier findet jedes Jahr eine Woche des ausländischen Mitbürgers statt; hier gibt es eine Technoszene, die eher auf Love Parade als auf Gewaltausbrüche steht; hier agieren ein engagierter Sozialdezernent und eine Ausländerbauftragte des Landkreises, die zumindest ansatzweise politische Lobbyarbeit für die Flüchtlinge und Immigranten betreiben kann.
Spielräume also gibt es in Fürstenwalde genug – und „mit etwas mehr Ressourcen“, sagt Wagner, „könnte man in der Stadt was kippen“. Aber die kommen eben nicht. Man flickschustert Stellen und Projekte aus unzähligen Töpfen zusammen. Ist die Stelle endlich für ein Jahr gesichert, geht der Kampf um die Sachmittel los – und umgekehrt. Gleichzeitig setzt sich fort, was Wagner als „Sedimentierung“ rechtsextremer und völkischer Trends der letzten Jahre bezeichnet. Wenn Lehrer – nicht nur in Fürstenwalde – im Unterricht Fleiß und Ordnung als deutsche Tugenden anmahnen, um Ruhe in der Klasse herzustellen, hilft dagegen kein noch so elaboriertes Konzept gegen rechte Jugendgewalt. Dann braucht man eine öffentliche Debatte, in der die Frage „Was ist die deutsche Gesellschaft?“ diskutiert wird, sagt Wagner. Und in der nicht zuletzt die Politiker Werte wie Demokratie, Toleranz und Integration verteidigen.
Die Spielräume also sind da. Was fehlt, ist der vielzitierte „Ruck“ in der Stadt, ein vermeintliches „Jugendproblem“ endlich als ein gesamtgesellschaftliches zu begreifen. Dieser „Ruck“ ging auch dann nicht durch die Stadt, als vor wenigen Wochen plötzlich die gesamte Bevölkerung eine – wenn auch kurzfristige – Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit hinnehmen mußte. Weil sich Rechtsradikale zu einer verbotenen Demo zum 10. Todestag von Rudolf Heß angesagt hatten, forderte die Polizei die Fürstenwalder kurzerhand auf, dem Bahnhofsgelände fernzubleiben. Die Demonstration wurde verhindert, man habe alles unter Kontrolle gehabt, erklärte eine Polizeisprecherin auf Anfrage. Das ist Ansichtssache: Patrick Siebert war an diesem Tag mit dem Fahrrad zur Gartenlaube seiner Eltern unterwegs. „Du fährst mir hier nicht mit dem Rad durch die Gegend“, erklärte sein Vater. „Die Stadt ist voller Glatzen.“ Den Rückweg legte er auf dem Rücksitz geduckt im Auto zurück. Eine reine Vorsichtsmaßnahme.
Rechtsradikalen begegnet er jetzt nur noch in den „chatrooms“ des Internets, in dem er allabendlich surft. Wann immer sich einer mit dem Gruß „88“ ins virtuelle Gespräch einschaltet, weiß Patrick, mit wem er es zu tun hat. Der achte Buchstabe im Alphabet ist das H. 88 bedeutet „Heil Hitler“. Und wenn er auf dem Bildschirm liest „Euch Zecken müßte man aufschlitzen“, dann klickt sich Patrick einfach aus.
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