: Ohne Kohl mit Kohl gewinnen
■ Debatte um den Kanzlerkandidaten der Union verschärft sich: Industrieboß Necker verlangt Kohls Ende bis zum Jahr 2000. CDU-Fraktionschef Schäuble freut sich über miserable Prognosen: Besser als schlechte Wahlergebnisse
Berlin (taz) – Die CDU steckt in einem Dilemma: Ohne Schaden für die Partei wird sie vor der Bundestagswahl weder ihren Kanzlerkandidaten los noch die Kandidatendebatte. Und je uneinsichtiger sich Helmut Kohl gegenüber den Szenarien zeigt, noch vor der Wahl zugunsten von Wolfgang Schäuble als Kanzlerkandidat zurückzutreten, desto panischer wird die Diskussion in der CDU. Für Aufregung hat am Wochenende einer gesorgt, den man bisher nicht als Gegner der Union kannte: Tyll Necker, Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Er forderte Kohl auf, einen Termin zu nennen, wann er im Falle seiner Wiederwahl sein Amt an Wolfgang Schäuble abgeben werde. „Er sollte jetzt sagen: Spätestens am 1. Januar 2000 übernimmt Schäuble das Ruder“, so Necker.
Gegen einen nur auf Kohl zugeschnittenen Bundestagswahlkampf wandten sich am Wochenende auch führende Unionspolitiker. Der niedersächsische CDU- Chef Christian Wulff forderte, daß die Partei neben Kohl vor allem Schäuble, aber auch die Finanz- und Wirtschaftspolitiker sowie „das große Potential der um die 40jährigen in Bund und Ländern“ herausheben sollte. Alle diese Vorschläge sind Ausdruck des strategischen Problems: Die Union kann darauf hoffen, die Wahl zu gewinnen, weil eine Mehrheit der Deutschen Rot-Grün ablehnt. Sie muß andererseits aber mit einer Niederlage rechnen, weil ebenso eine Mehrheit Kohl nicht mehr als Kanzler will. Vor lauter Verzweiflung sollen Emissäre der CDU, so der Spiegel, bei mehreren Hamburger Werbeagenturen letzte Woche diskret angefragt haben, ob sich bis zur Wahl noch eine frische Kampagne realisieren lasse.
Den Kanzler ficht das alles bis jetzt nicht an. Wer ihn kenne, der wisse, so Kohl auf dem Parteitag der CDU Rheinland- Pfalz in Mainz, „daß ich überhaupt nicht die Absicht habe, das Feld zu räumen“. Die Wahl sei für die CDU noch nicht verloren. „Es macht mir Freude, es den anderen noch mal so richtig zu zeigen“, rief er. Gerade dieser Optimismus des Kanzlers, früher ein Zeichen seiner Stärke, kostet ihm in der Partei an Autorität. Kohl verliert die Kontrolle, heißt es hinter vorgehaltener Hand. „Wir sind noch nicht auf dem Tiefpunkt angekommen“, so ein anonymes Kabinettsmitglied im Spiegel.
Der Tiefpunkt dürfte nach Lage der Dinge die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 26. April werden. In den letzten Umfragen ist die CDU dort auf den historischen Tiefststand von 25 Prozent abgerutscht, die SPD hingegen erzielt im Sog des Schröder-Erfolgs derzeit 45 Prozent – beide Parteien erhielten 1994 noch je 34 Prozent. Da fällt selbst Wolfgang Schäuble, dem asketischen Gegenmodell zu Gerhard Schröder, nicht mehr viel ein. „Viel schlimmer wäre es, wenn die Prognosen zu positiv wären“, sagte er beim CDU-Wahlkampfauftakt in Magdeburg, „denn dann kommt am Wahltag immer das böse Erwachen.“ Man kann auch bei schlechten Prognosen böse erwachen. Wie in Niedersachsen. Jens König
Berichte Seiten 2 und 5, Debatte Seite 12
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen