: Der Puschkin aus Marzahn
Gesichter der Großstadt: Der russische Dichter Valerij Kuklin trat als erster Spätaussiedler der PDS bei. Er macht Wahlkampf unter Rußlanddeutschen mit selbstherrlichen Publikationen ■ Von Marina Mai
Für Valerij Kuklin ist Marzahn der schönste Bezirk in Berlin. „Die Straßen sind hier breiter als in den Westbezirken. Das Grün ist gewachsen. Und die Menschen im Osten lesen mehr Bücher als im Westen“, beschreibt der 46jährige die Vorteile seines Bezirkes. Da nimmt Kuklin gern in Kauf, daß der Samowar in der kleinen Küche des Plattenhochhauses auf der Erde stehen muß. Hauptsache in die gut polierte Schrankwand in seinem Wohnzimmer passen die Werke der russischen Klassik von Puschkin bis Tschechow.
Auch Kuklin ist Schriftsteller. Vor zwei Jahren kam er auf Wunsch seiner rußlanddeutschen Frau als Spätaussiedler aus Kasachstan nach Berlin. Wenn er nicht gerade bei einer Theatergruppe Regie führt, schreibt er mythologische Stücke und Zeitungstexte. Er steht dem Verein „Skaska“ (das Märchen) vor, der sich die Integration der 12.000 Marzahner Spätaussiedler auf die Fahnen geschrieben hat. Geld verdient der Mann, der wegen einer späten Kinderlähmung erwerbsunfähig ist, damit kaum. Er lebt von Sozialhilfe.
Obwohl Kuklin in den 70er Jahren vom KGB verhaftet wurde, weil er ein verbotenes Werk von Michail Bulgakow vervielfältigt hatte, gilt seine Sympathie dem Sozialismus. Dies veranlaßte Kuklin im März, als erster Aussiedler bei der PDS um Aufnahme zu bitten. Für die war Kuklin so etwas wie ein deus ex machina. „Er wollte uns helfen, im Wahlkampf bei den Rußlanddeutschen zu bestehen“, erinnert sich die Bezirksverordnete Marina Tischer. Jeder zwölfte Wahlberechtigte in der PDS- Hochburg ist ein Spätaussiedler und die Bindung dieser traditionellen CDU-Klientel bekam in den letzten Jahren Risse.
Dank der PDS hat Kuklin seit April ein eigenes Medium. Er gibt als Alleinredakteur ein zweisprachiges „Spätaussiedler-Blatt“ heraus. Was wie Wahlkampf anmutet, ist in Wirklichkeit eine Selbstdarstellung des eitlen Künstlers. Die vierseitige Zeitschrift enthält Reflektionen über russische und sowjetische Geschichte, über die Gefahren der Massenkunst und Propaganda. Dazwischen stehen Artigkeiten über die PDS, die Druck und Layout finanziert und für die Übersetzung aufkommt.
„Die deutschen Machthaber haben nicht Boris Godunow von Puschkin gelesen und kennen nicht die Kraft eines schweigenden Volkes, die in Kreisen der heutigen Aussiedler fortlebt“, schreibt Kuklin. Und getreu seinem literarischen Vorbild Puschkin braucht er „die Masse“ der Spätaussiedler, damit er, der Künstler, der eine, sich über sie erheben kann. Im Geheimen blickt er auf sie herab, da die „meistens Bauern sind und keine Kultur haben. Keine wirkliche Kultur, meine ich.“
Dabei müssen seinen Lesern Kuklins Auffassungen als Provokation erscheinen und auch in der PDS ist Ernüchterung eingetreten. Eine Unterdrückung von Deutschen hat es laut Kuklin in der Sowjetunion nach dem 20. Parteitag von 1956 nicht gegeben. Die Rußlanddeutschen wären aber im Zweiten Weltkrieg die fünfte Kolonne Hitlers gewesen und von Stalin völlig zu Recht jenseits des Kaukasus angesiedelt worden. Hätte Stalin nur etwas länger gelebt, hätte er eine rußlanddeutsche Sowjetrepublik gegründet.
Seine Theaterstücke will Kuklin im Marzahner Freizeitforum aufführen. Daß ihm ein Rußlanddeutscher das Recht absprach, als Russe für Deutsche zu sprechen, ficht ihn wenig an. Auch andere nicht. Zur letzten Premiere kamen 80 Besucher.
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