: Verzweifelte Suche nach der „Berliner Republik“
Während die bundesdeutsche Intelligenzija erbittert um die Normalität der „Berliner Republik“ ringt, haben die Berliner Hauptstadtgespräche versucht, erst einmal den Begriff zu klären. Doch auch hier kam man nicht an der aktuellen Kontroverse zwischen Walser und Bubis vorbei ■ Von Barbara Junge
„Haben wir denn keine anderen Probleme? Berliner Republik, Berliner Republik – ich weiß gar nicht, was das sein soll“, sprach Marcel Reich-Ranicki, Literaturpapst, scharfzüngiger Begleiter bundesdeutschen Zeitgeists und Überlebender des Holocaust. Und befand sich in guter Gesellschaft.
Auf dem Podium im geschichtsträchtigen Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt, im Herzen dessen, was die vielbeschworene „Berliner Republik“ symbolisieren soll, traf er am Dienstag abend auf zwei WissenschaftlerInnen, einen Politiker und ein Publikum, die ein ähnliches Problem zu haben schienen. Während die Intelligenzija der Bundesrepublik angesichts der erbitterten Debatte um Martin Walsers Sonntagsrede von der Instrumentalisierung von Auschwitz über die „Normalität“ der „Berliner Republik“ streitet, versammelte man sich bei den von der Freien Universität Berlin initiierten Hauptstadtgesprächen, um zu klären, was diese „Berliner Republik“ denn eigentlich bedeute.
„Der Begriff hat eine gewisse Klärung der deutschen Bewußtseinshorizonte ermöglicht“, gab der renommierte Historiker Heinrich August Winkler Einblick. „Daß Berlin als Hauptstadt deutlich hervortritt“, darin sah der frühere Leiter des Bundeskanzleramtes, Horst Teltschik, den Kern der neuen Republik.
„Ich kann nicht sagen, was die Berliner Republik ist, das will ich heute hier erfahren“, gab die ehemalige Leiterin des polnischen Kulturinstituts in Berlin, Dorota Paciatelli, zu.
Gut 500 Berlinerinnen und Berliner waren in den völlig überfüllten Saal des Schauspielhauses gepilgert, um zu erfahren, was es mit dem Begriff der „Berliner Republik“ auf sich habe. Präsentiert wurde ihnen ein bunter Strauß von Erwartungen, einige Befürchtungen, viel Hilflosigkeit und der Stand der Diskussion.
Die „Berliner Republik“ – noch vor kurzem der Inbegriff stramm konservativer Hoffnungen auf eine deutsche Normalität „nach Auschwitz“ – hat erstaunliche Wandlungen vollzogen. Seit Rot- Grün in Bonn regiert, die Generation der 68er die Entscheidungsgremien der Republik besetzt, steht der Begriff plötzlich für eine neue Generation, für eine nachkonservative Republik. Noch andere Deutungen unterliegen jedoch dem Begriff: die Vorstellung von einer wirklich vereinigten Republik. Der Wunsch der Berliner, etwas Besonderes zu sein. Und eben die deutsche „Normalität“.
„Ich habe vor dieser Veranstaltung viele Artikel über die Berliner Republik gelesen. Alle Autoren sagen: Wir wissen nicht, was die Berliner Republik ist, aber wir brauchen sie“, faßte Marcel Reich- Ranicki die Debatte auf seine Art zusammen. Daß Berlin nicht Bonn ist, das sei ja wohl selbstverständlich, „eine Banane ist ja auch keine Tomate“. Doch darum, so Reich- Ranicki, gehe es im Kern nicht: „Man will sie, die Berliner Republik, man will einen neuen Staat.“
Den neuen Staat aber wollte der ehemalige Kohl-Berater Horst Teltschik nicht akzeptieren. „Ich bestreite entschieden, daß der Wechsel nach Berlin zu einem anderen Staat führen wird. Was stimmt, ist, daß wir eine andere Politik bekommen werden.“ Für ihn liegt im Hauptstadtwechsel, den er mit der „Berliner Republik“ meint, eine Chance zur Realitätsnähe. „Die Politik ist hier mit einer Großstadt konfrontiert. Zum Beispiel mit den Problemen des Bahnhofs Zoo – im Zweifel steigt da mal einer aus dem Zug aus –, mit den ausländischen Mitbürgern, mit dem Milieu Ostberlins.“
Der Historiker Winkler seinerseits wollte sowohl den Ort als auch die nationale Identität mit der „Berliner Republik“ gemeint haben. Den Ort vor allem im Osten. „Auch neun Jahre nach 1989 ist dieses Land ein gespaltenes Land, von Berlin aus wird man das nicht mehr ignorieren können.“ Zugleich müßte die westliche Gesellschaft deshalb mit ihren DDR-bezüglichen Lebenslügen aufräumen. Die Konservativen, deren Wiedervereinigungsstreben einfach nie so vordringlich gewesen wäre wie behauptet. Und die Linken, „von denen große Teile bis zuletzt davon überzeugt waren, daß die Verbrechen des Nationalsozialismus durch die Teilung gesühnt werden können“.
Eine Identität, die Ort und Zeit verknüpft, wollte der Historiker mit dem Rückgriff auf die Geschichte konstruieren: „Berlin war die Hauptstadt der ersten deutschen Demokratie. Eine liberale, demokratische Tradition, an die man wieder anknüpfen kann.“
Mit dem Rückgriff auf die Geschichte war die Debatte über die „Berliner Republik“ denn auch da angelangt, wo sie derzeit steht: bei Martin Walser. „Mit der Berliner Republik stehen das, was Walser gesagt hat, und die folgende Diskussion nur in einem zeitlichen Zusammenhang“, erklärte Walser- Kenner Reich-Ranicki. „Walser hat die Rede nicht zufällig jetzt gehalten, aber das hat einen persönlichen Grund.“ Indes habe die Gleichzeitigkeit, die ja auch die nicht endende Debatte um das Holocaust-Mahnmal betreffe, seinen Grund. Walser entspreche dem Bedürfnis eines großen Teils der Deutschen nach einer Neuordnung der Vergangenheit. „Walser hat, indem er diese Rede gehalten hat, etwas ausgedrückt, was viele andere Menschen für wichtig halten“, so Reich-Ranicki.
Dabei habe Walser „gänzlich versagt“. Nicht politisch, nicht moralisch, nicht als Denker oder Zeitkritiker, sondern rhetorisch. „Das Empörende“, so Reich-Ranicki, „ist der Ton, die Schnoddrigkeit. Er hat auf taktlose und ungeheuer beleidigende Art gesprochen. Die Rede ist eine unseriöse Provokation.“ Walser habe weitgehend verantwortungslos gesprochen, allgemeine Beschuldigungen verbreitet und müsse sich nicht wundern, daß seine Worte entsprechend – unter anderem an Stammtischen – benutzt würden.
So endete denn auch die Diskussion um die „Berliner Republik“. Historiker Winkler betonte, daß „1933 das Zentralereignis bleiben wird“. Horst Teltschik stellte fest: „Die Geschichte holt uns wieder ein, und sie muß uns auch präsent sein.“ Und Dorota Paciatelli hatte bereits betont, man „werde eine Identität nur finden, wenn man sich der Vergangenheit stellt“.
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