■ Mit dem Zwist zwischen Walser, Bubis und Dohnanyi wird das nationale Selbstverständnis der „Berliner Republik“ ausgefochten: Der Schwanengesang der Flakhelfer
Am 11. Oktober hielt der national gestimmte Schriftsteller Martin Walser vor der politisch-kulturellen Crème Deutschlands in der Frankfurter Paulskirche eine provokative Rede. Oberflächlich einem ernsthaften Problem zugewandt, der Ritualisierung des Gedenkens, attackierte er namentlich nicht genannte Intellektuelle und Dichter dafür, sich der nationalen Schuld- und Schandgemeinschaft entziehen zu wollen.
Wäre es Walser ernstlich um die Authentizität der Klage und das Vernutzen der Opfer gegangen, so hätte er – ein Meister des geschriebenen wie des gesprochenen Wortes – behutsamer formuliert. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, der – man erinnere sich – vor einigen Jahren noch als Bundespräsident im Gespräch war, verstand die Rede richtig. Ohne die Anspielungen auf Grass und Habermas aufgenommen zu haben, erkannte Bubis hinter dem wütend-selbstmitleidigen Gestus, den Vokabeln aus dem rechtsextremistischen Wortschatz und der paranoiden Wut auf die Medien antisemitische Züge.
Die FAZ, deren Herausgeber Frank Schirrmacher dem Schriftsteller die Laudatio gehalten hatte, räumte darauf einem gescheiterten Politiker aus dem zweiten Glied, dem ehemaligen Hamburger Bürgermeister von Dohnanyi, ungewöhnlich viel Platz für wortreiche Überlegungen zum Verhältnis von Deutschen und Juden, nationaler Würde und lebensgeschichtlich erworbenen Verletzbarkeiten ein.
Ignatz Bubis, der lange nicht einsehen konnte, daß Juden als Juden in Deutschland aus eigener Kraft nicht den mindesten Einfluß haben und auch nicht – wie gerne behauptet – als moralische Autoritäten gelten können, spielte eine Weile mit. Er mußte sich schließlich von Klaus von Dohnanyi fragen lassen, ob er sein Verantwortungsgefühl verloren habe. Daß einige Äußerungen von Dohnanyi, Augstein und Walser antisemitisch sind, bedarf etwas aufwendiger, aber nicht besonders mühevoller Nachweise und bestätigt Bubis' Behauptung, Walser sei ein geistiger Brandstifter. Die Funken, die er mit seiner Rede geschlagen hat, haben einen kulturellen Flächenbrand entfacht. Was ist eigentlich geschehen?
Es handelt sich offensichtlich um einen Fall von Oberschichtkommunikation, um einen emotional heftig aufgeladenen Selbstverständigungsprozeß des deutschen Bildungsbürgertums, seiner Fraktionen und Generationen. Die Topographie der Auseinandersetzung läßt daran keine Zweifel: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Paulskirche, Feuilleton der FAZ, Zeit und Spiegel. Die Protagonisten gehören, mit Ausnahme von Ignatz Bubis, der im KZ gequält wurde, und Jan Philipp Reemtsma der Generation heute siebzigjähriger Deutscher an. Sie haben das Kriegsende als Schüler, als Flakhelfer, junge Soldaten oder Offiziere erlebt und danach als oppositionelle Journalisten, Literaten und Politiker die westdeutsche, die katholische Staatsgründung Konrad Adenauers kritisch bis ablehnend begleitet.
Von Klaus von Dohnanyi und Walter Jens bis zu Richard von Weizsäcker und Günther Rohrbach, die Verständnis für Bubis zeigen, handelt es sich um (mit Ausnahme von Augstein) protestantisch erzogene Männer, die allesamt eine Idee vom besseren, vom anderen Deutschland hegten.
Diese Idee schlägt bei einem Teil von ihnen in aggressiven Nationalismus um. Richard Serra und Peter Eisenman wurden in der zweiten Runde des Wettbewerbs für das Berliner Holocaust-Mahnmal von den Auslobern eingeladen, einen Entwurf zu präsentieren. Die Auslober sind ausnahmslos politische und kulturelle Instanzen der Bundesrepublik: Bund, Land Berlin und Förderverein. Aus der innerdeutschen Entscheidung für Eisenmans Entwurf wird bei Augstein, in bester antisemitischer Manier, eine Intervention anonymer, auswärtiger Mächte: „Man kann uns nicht von außen diktieren, wie wir unsere neue Hauptstadt in Erinnerung an die Vergangenheit gestalten.“ Zudem wird Augstein von Ahnungen geplagt, nämlich „daß dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet ist“, ein Deutschland, zu dem jedenfalls Ignatz Bubis nicht wirklich gehört, ist er doch „für solch ein diffiziles Vorhaben zu befangen“.
Was bei Augstein als namenloser Einfluß aus dem Ausland auftritt, erscheint bei Walser als Knebelung des Gewissens. Der Schriftsteller beruft sich nicht nur auf evangelische Denker, sondern inszeniert sich auch als wiedergeborener Martin Luther, der vor einer feindlichen Welt steht und nicht anders kann. Aber sowohl Augstein als auch Walser drohen mit Judenfeindschaft, der eine offen, der andere verklausuliert. Werde Eisenmans Entwurf verwirklicht, so Augstein, „schaffen wir Antisemiten, die vielleicht sonst keine wären“, während Walser richtig feststellt, daß Gewissen nicht delegierbar sei, um kryptisch zu schließen: „Je mehr Leitung und Vorschrift da spürbar wird, um so negativer kann die Reaktion sein.“
Nationale Souveränität und individuelle Gewissensfreiheit werden in diesem Diskurs bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verwoben. Aus der Geschichte nicht nur Deutschlands wissen wir, daß das Selbstverständnis von Nationen, ihre „Identität“, keine natürliche Tatsache, sondern ein Konstrukt, ein Ergebnis von Elitenkommunikation ist. Derzeit läßt sich nicht absehen, ob die Einlassungen von Augstein&Co nur der Schwanengesang einiger Meinungsbildner der alten Bundesrepublik ist, oder ob hier – allen europapolitischen Schwüren der „Neuen Mitte“ zum Trotz – das semantische Feld eines neuen Nationalismus bereitet wird.
Das muß solange Spekulation bleiben, als sich der andere Teil der Flakhelfergeneration, namentlich die angegriffenen Günther Grass und Jürgen Habermas, nicht äußern und die Reaktion auf Walsers Rede Ignatz Bubis überlassen. Wirklich mehr wissen werden wir freilich erst, wenn sich weitere jüngere Intellektuelle zu Wort melden, wenn moralische Instanzen wie die Kirchen, die sich – obwohl doch ihre ureigene Sache verhandelt wird – vornehm zurückhalten, aus der Deckung kommen und endlich die Bundestagsdebatte um das Mahnmal stattfinden wird.
Es wird diese – und keine andere – Debatte sein, in der die „Berliner Republik“ und ihre Nationalidee geboren werden wird. Die politische Ernsthaftigkeit von Rot-Grün wird sich auch daran messen lassen, ob es sich der Mahnmal-Entscheidung auch bei ungewissem Ausgang stellt oder sie durch feige Verfahrenstricks zu umgehen sucht. Micha Brumlik
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