: Das normale Deutschland und die Juden
■ Wie normal kann Deutschland werden? Dürfen die Deutschen überhaupt jemals normal werden? Die heftige Kontroverse zwischen Martin Walser und Ignaz Bubis hat unter den in Deutschland lebenden Juden alles ausgelöst: Empörung, Irritation, Nachdenklichkeit und Überdruß.
„Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft?“ Martin Walser hat diese Frage, die er anlässlich seiner Rede zur Verleihung des Frankfurter Friedenspreises aufwarf, nicht beantwortet. Er meinte sie rhetorisch, glaubte, sie beantworte sich von selbst. Nämlich so, daß er, Walser, die konzentrierten Angriffe derer auf sich ziehen werde, für die ganz so normal die Verhältnisse in der „Berliner Republik“ auch wieder nicht sind.
An der folgenden Auseinandersetzung hat sich der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignaz Bubis, mit scharfen Erklärungen beteiligt. Im Kern beschuldigt er Walser der intellektuellen Brandstiftung. Mit jeder Runde der Polemik ist der Ton schärfer, die Auseinandersetzung persönlicher geworden.
Warum? Spielt es eine Rolle, daß die Überlebenden der Shoa bald sterben werden und ein Kampf um den Platz entbrennt, den der Mord an den europäischen Juden im künftigen „kulturellen“ Gedächtnis einnehmen wird? Hängt die Schärfe der Auseinandersetzung auch an Befürchtungen, daß eine Version der „Normalität“ zum Leitstern der Bundesrepublik wird, die Fragen nach der fortdauernden Verantwortung auch der nächsten Generation ausschließt?
Wer zu häufig versichert, normal zu sein, läßt Zweifel an seinem Geisteszustand aufkommen. Was heißt eigentlich Normalität unter den Bedingungen der neuesten deutschen Geschichte? Diese Frage zu beantworten sind nicht zuletzt die Juden aufgerufen, die – sei es bewußt oder durch biographischen Zufall – Deutschland zum ständigen Wohnsitz haben. Für Eugene DuBow, Vorsitzender des American Jewish Committee in Berlin, ist die Kontroverse eben bestimmt durch den Ablösungsprozeß der Generationen. Er will keineswegs, daß sich junge Deutsche schuldig fühlen, aber er will ihr Verantwortungsgefühl wecken. „Normalität“ existiert für ihn nicht, weder in Deutschland noch anderswo. Also gilt es auch für die kommende Generation, sich in unnormalen Verhältnissen zurechtzufinden. Dazu gehört allerdings, daß denen Gerechtigkeit widerfährt, die durch die Nazis an Gesundheit oder Vermögen geschädigt worden sind. „Die Deutschen haben viel getan, aber die Bücher sind noch nicht geschlossen.“
Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum in Frankfurt findet, die Walser-Rede habe vor allem für die „Hitler-Jungen-Generation“ die Funktion gehabt, „sich gut zu fühlen“ und die „eigene Psyche zu entlasten“. Walsers Abwehr eines angeblich allgegenwärtigen öffentlichen Gewissens-Diskurses hält sie allerdings für ein „Symptom für die neue Berliner Republik“. Auch die jüdische Übersetzerin Eva G. findet, die Walser-Bubis-Kontroverse sei Ausdruck der „neuen Bundesrepublik im Schröder-Stil“. Denn der sei „ein Grobian ohne Sensibilität“.
Diesen Mangel an Stil und sprachlichem Einfühlungsvermögen macht auch Marcel Reich-Ranicki zum Hauptpunkt seiner Anklage gegen Walser. „Walser hat den falschen Ton gewählt. Er hat auf eine taktlose, eine ungeheuer beleidigende Art gesprochen. Seine Rede war eine unseriöse, taktlose Provokation.“
Anetta Kahane, Geschäftsführerin der „Regionalen Arbeitsstätten für Ausländerfragen“, verteidigt entschieden Bubis' These von der „Brandstiftung“, indem sie ihre Erfahrungen mit Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus in den neuen Ländern heranzieht. „Zwischen Saalfeld und Uckermünde laufen jede Menge Neonazis herum, und die Leute dort sagen, ,das ist doch ganz normal'.“ Walser kann in Neuruppin jederzeit eine Rede halten, aber für einen Schwarzen wäre das nicht so einfach. Schon jetzt zeige es sich, daß Walsers Rede von Rechtsradikalen aufgegriffen werde.
Auch für die Journalistin Erica Fischer ist das Verhältnis von deutschen Juden und nichtjüdischen Deutschen alles andere als normal – jetzt und in der Zukunft. Das zeige sich vor allem an der Praxis der Deutschen, ein unbefangeneres Verhältnis zu jüdischen „Mitbürgern“ zu finden, das den Holocaust zwar nicht verdrängt, aber die Juden auch nicht ausschließlich als Opfer sieht. Philosemitismus oder antisemitische Aggression seien die logische Folge einer solchen Haltung. Fischer meint, daß gerade unter jüngeren Juden in Deutschland die Abgrenzung von einer bewußtlosen Normalisierungspolitik wachse.
Eine ganz andere Auffassung in der „Normalisierungsfrage“ vertritt der Berliner Rechtsanwalt Albert Meyer. Er stimmt mit Walser darin überein, daß die ständige Präsenz von mahnenden, ins Gewissen redenden Diskursen die Erinnerung an den Holocaust abnutze und nur zu Aggressionen führe. Er sei zwar nicht einverstanden mit Walsers Privatisierung von Gewissensfragen. Aber der Hauptpunkt der Kritik müsse Bubis gelten, vor allem seinem Angriff auf Klaus von Dohnanyi, den der Vorsitzende des Zentralrats des latenten Antisemitismus bezichtigt hat. Meyer wendet sich scharf dagegen, daß Bubis das Forum des Gedenkens zur Pogromnacht dazu benutzt habe, die Kontroverse anzuheizen. Für die deutschen Juden gelte es, in den nächsten zehn Jahren eine Art von Normalität zu entwickeln, die keinerlei Sonderrolle oder –status mehr für sich beanspruche.
Für eine mögliche Normalität plädiert auch Julius Schoeps. Der Potsdamer Professor sieht die Notwendigkeit, die Opferrolle der Juden aufzuheben, sie zu „entstigmatisieren“. Solange eine jüdische Synagoge dem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses gleiche, könne davon keine Rede sein. Die Juden, so Schoeps, müßten in Deutschland „ihren Ort finden“. Die Debatte trage keine aufklärerischen Züge: „Sie muß heruntergepolt werden, am besten mittels Rundem Tisch ohne Glotze.“
Im Ergebnis stimmt dem die jüdische Medizinstudentin Ellen aus Frankfurt/Main zu: „Über Walser diskutieren? Bloß nicht, der nervt nur ab! Von dem hatten wir schon in der Schule genug.“ Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen