: Großdemos bringen Stau und Geld
■ Das befürchtete Verkehrschaos rund um die Proteste gegen die Sparpolitik blieb gestern aus. Überhaupt: Was soll das Genöle? Demonstranten bringen auch Geld in die Kassen
Über 70.000 Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet demonstrierten gestern in Berlin gegen die Pläne des knauserigen Finanzministers. Die Polizei reagierte mit großzügigen Absperrungen. Aufgrund der für Autofahrer gesperrten Straße des 17. Juni und dem Gebiet um das Brandenburger Tor kam es zu Verkehrsbeeinträchtigungen. Doch das befürchtete Chaos blieb aus. „Die Autofahrer haben den Citybereich umfahren“, stellte der Mitarbeiter des Verkehrswarndienstes der Polizei, Detlef Teich, befriedigt fest. Zudem hätten die Herbstferien zur Entspannung der Lage beigetragen. Zwar hätten einige Autofahrer im Stau gestanden, doch das sei für eine Großstadt wie Berlin „ganz normal“.
Seit Berlin Regierungssitz ist, vergeht kaum ein Tag, ohne dass Großdemonstrationen oder Staatsgäste den Verkehr zum Erliegen bringen. Gestern mittag protestierten Beamte und Angestellte. Am Nachmittag trafen die Königspaare, Ministerpräsidenten und Außenminister der skandinavischen Länder zur Eröffnung der Nordischen Botschaft ein. Heute wollen IG-Metaller mit einem Fahrradkorso gegen die Schließung des Alcatel-Werkes demonstrieren. Nächsten Dienstag wird der Sozialversicherungsbund „Hände weg von der Rente“ fordern. Und am 13. November schließlich werden Bauern aus dem Wendland mit ihren Treckern zu einer „Stunkparade“ auf den Alexanderplatz rollen, um von „Gerhard“ den Ausstieg aus der Atomenergie zu fordern.
Die Wut der Autofahrer auf den Stau entlädt sich auf unterschiedliche Weise. Die einen drehen durch, die anderen schreiben Beschwerden. Vor allem die Bundespolitiker aus Bonn können sich nur schwer damit abfinden, dass sie für kurze Fahrstrecken in der Hauptstadt mitunter eine halbe Ewigkeit brauchen. Schützenhilfe bekommen sie von der BVG. Die Verkehrsbetriebe haben vorgeschlagen, im Zentrum eine Art „Berlin-Spur“ zu eröffnen. Diese solle nicht nur Bussen und Taxis vorbehalten sein, sondern – nach Moskauer Vorbild – auch Dienstwagen der Regierung. Auch das eilfertige Verteilen von Strafzetteln für Falschparken stößt so manchem Bonner Abgeordneten auf.
Innensenator Eckart Werthebach (CDU) hat entsprechende Beschwerden bislang entschieden zurückgewiesen: „Berlin ist nicht das Raumschiff Bonn, rheinische Beschaulichkeit kann diese Metropole nicht bieten.“ Demnächst will sich Werthebach in einem Gespräch mit dem Ältestenrat des Bundestages um „Harmonie“ zwischen den Fronten bemühen. Einstweilen hat Polizeipräsident Hagen Saberschinsky schon mal die weiße Fahne rausgehängt. In einem offenen Brief forderte er seine Polizisten auf, gegenüber politischen Mandatsträgern „Fingerspitzengefühl und Sensibilität“ zu zeigen. Plutonia Plarre
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen