■ Die SPD glaubt, dass man „gegen die Wirtschaft nicht regieren“ könne. Deshalb entziehen die Wähler ihr das Vertrauen – zu Recht: Gerhard ist unsere Maggie
Da gibt es diesen alten Witz über den sozialdemokratischen Minister, der vor die tobende Basis tritt und trotzig ruft: „Genossen, wir haben die Wiedereinführung der Prügelstrafe nicht verhindern können. Das stimmt. Aber, Genossen, dank unserer Mithilfe ist die Zahl der Schläge auf 25 begrenzt worden. Und: Wir Sozialdemokraten haben die freie Arztwahl durchgesetzt ...“
Von der Ohnmacht zur Lächerlichkeit ist es nur ein kleiner Schritt. Gerhard Schröder scheint entschlossen, ihn zu gehen: „Das Subsystem, in dem ich arbeite“ – wer so vor den Managern der Deutschen Bank in einer Feierstunde zum Auftakt des „Kapitalismus im 21. Jahrhundert“ redet oder im Kabinett bezweifelt, dass „man gegen die Wirtschaft regieren könne“, der hat den politischen Offenbarungseid geleistet und seine Ohnmacht gegenüber Steuerflucht und Arbeitslosigkeit bekannt.
Das Publikum honoriert solch Impotenzgehabe mit Stimmentzug. Irgendwie hat es sich schließlich herumgesprochen, dass 16 Jahre CDU-Regierung die großen Vermögen noch größer gemacht haben, dass die Staatsschuld kein Loch in Papas Börse ist, sondern ein Umverteilungsmechanismus in die neue Mitte: Damit wurden die wirklich steuerzahlenden, also unteren Schichten für Jahrzehnte mit einer Sondersteuer belegt. Und nun sollen dieselben Steuerzahler noch einmal zahlen, mit der Reduktion der Leistungen zwecks Tilgung der Schulden – und das in einer Zeit, in der Aktienkurse steigen, aber Löhne stagnieren und die Miete nicht mehr 20, sondern 25 Prozent vom Nettoeinkommen frisst? Das Volk beginnt leise zu murren und selbst in bisher immunen Gebieten PDS zu wählen.
Also muss, schnell und überstürzt, ein neues Lied her, diesmal das von der „Verantwortung der großen Vermögen“. Auf dem Fuße gefolgt von der öffentlichkeitswirksamen Frage, ob eine Vermögensteuer gerecht ist, ob wirksam, ob legal. Nein, keine Steuer – sagt Eichel. Doch, eine Abgabe – will Clement – zur Bildungsförderung. Was verfassungsrechtlich bedenklich ist – sagen die Dritten usw. usf. Der Streit wird die SPD ein Jahr lang beschäftigen, und danach ist Wahlkampf. Das könnte ein genialer CDU-Stratege nicht besser ersonnen haben.
Schlimmer noch, die Kommentatoren höhnen schon vorab: „Placebo“ für Traditionalisten (FAZ), für „Gerechtigkeitsapostel“ (Süddeutsche); lasst ihm doch das bisschen Umverteilungssymbolik, rät gar gönnerhaft die Zeit, die Basis brauche es fürs Gemüt, und Schröder brauche die Basis, damit er den „sauren Dienst am Vaterland“ leisten könne, der da heiße: „Sparen und Schrumpfen“ des Sozialstaates. Wenn der Abbau vollendet sei, könne dann die CDU die Politik der neuen Mitte beginnen: Familie stärken und Bildung verbessern – kürzer: Gerhard ist unsere Maggie. Auch die CDU hat es geschnallt und erklärt perfiderweise offen: Als Gleichheit fordernder Gegner sei demnächst wohl eher die PDS ernst zu nehmen. Von der Lächerlichkeit zur Verächtlichkeit ist es eben auch nur noch ein Schritt.
Historisch jedoch steht an, die Konsequenz zu ziehen aus der seit Jahren verkündeten „Wahrheit“, dass nicht länger die Arbeit, sondern das Kapital der Hauptwertschöpfer sei. Die soziale Sicherheit der Massen muss an die Belastung des „Faktors Kapital“ geknüpft werden – dauerhaft, durch Besteuerung des Aktienvermögens, der Zinseinkünfte und der Erbschaften. Da Wachstum nicht mehr automatisch Arbeitsplätze schafft, wird Vollbeschäftigung nur zu schaffen sein mit massiver Arbeitszeitverkürzung und neuen öffentlichen Aufgaben: etwa der Sanierung der Natur und dem Ausbau der Erziehungs- und Energiesysteme. Das wollte Arbeitsminister Riester einst – als er noch Gewerkschafter war.
Es wäre blauäugig, solche Großziele zu fordern, ohne sich auf heftige und lange Kämpfe gefasst zu machen. Das war mit der 40-Stunden-Woche und der Mitbestimmung nicht anders. Was könnte die Sozialdemokraten heutzutage denn veranlassen, mit ein paar Befreiungsschlägen den Durchbruch zu epochalen Notwendigkeiten zumindest zu riskieren – und etwa den öffentlichen Dienst zum Vorreiter einer Arbeitszeitverkürzung zu machen –, mit Teillohnausgleich und massiven Einstellungen junger Leute für Zukunftsaufgaben; einen gesteuerten Übergang von der beitrags- zur steuergestützten Rente; eine Umwidmung der sechs verspielten Transrapid-Milliarden für ein wirklich großes Solarprogramm – und so weiter oder anderes? Was könnte Schröder dazu bringen, sich in solch politisch brisante Projekte zu stürzen?
Eben dies: dass er bereits wackelt, dass kleine Reformen die Wiederwahl nicht sichern – und dass der Mohr, der pflichtschuldig die von der CDU begonnene Zerstörung des Modells Deutschland zu Ende bringt, auf lange Zeit wird gehen müssen, wie die englischen Konservativen. Es ist doch so: Ein honoriger Versuch der wirklichen Erneuerung bietet erheblich mehr Chancen, weil das Publikum den Starken mag, auch wenn er scheitert. Die SPD brauchte ein Gespür dafür, dass sich bei den Lohnsteuer- und Mietezahlern, die numerisch immer noch die Mehrheit des Volkes bilden, hartnäckig zweierlei hält: sowohl ein Bewusstsein davon, dass die Ausgrenzung der Überflüssigen keine Modernisierungshärte ist, sondern eine historische Ungerechtigkeit, als auch die Überzeugung, dass man die Zukunft nicht auf Kosten der Gegenwart opfern darf. Alle wissen das, und jeder handelt nur, wenn er es nicht allein tun muss, erwartet also, dass die Politik ihn zu seinem eigenen nachhaltigen Interesse zwingt wie ein ungeliebter Wecker. Diese beiden Überzeugungen sind inzwischen stabil, der offiziöse Glaube hingegen, was der Wirtschaft nütze, helfe allen, schwindet zusehends.
Der letzte Allensbacher Monatsbericht in der FAZ ergibt: Drei Viertel der Bevölkerung sind überzeugt, dass das Wirtschafts- und das Gesellschaftsinteresse nicht mehr zusammenfallen, dass die Exportindustrie ihren Interessen rücksichtslos folgt. Zwei Drittel wünschen sich eine stärkere Bindung der Wirtschaft ans Gemeinwohl. Der schiere demoskopische Opportunismus schon legte einer Politik, die an Wiederwahl denkt, nahe, solchen Überzeugungen zu folgen, ganz zu schweigen von der realistischen Erwartung, dass die politische Frontlinie der Zukunft zwischen denen laufen wird, die dumpf ihren Status quo verteidigen, und denen, die es wieder wagen, Gerechtigkeit zu fordern und neu zu denken: national, europäisch und global, mit langfristigen Visionen, schmerzhaftem Wandel und realistischen ersten Schritten. Im Selbstlauf der Dinge wird es noch eine Weile dauern, bis diese Linie unabweisbar wird, und wo die SPD dann stehen wird, ist noch nicht entschieden.
Mathias Greffrath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen