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Ein Sommer voller Kampfhunde

Die letzten Monate waren beherrscht von Horrormeldungen. Über crashende Jets, reißende Hunde und anderes mehr. Tatsächlich verbergen sich hinter den Aufregungen andere Ängste. Ein Gutachten

von MICHAEL RUTSCHKY

Zum ersten Mal in vollkommener Eindeutigkeit beobachtet habe ich das Problem in einem engen Raum, der für einen Geldautomaten einer Berliner Bank aufgesucht werden musste. Ungefähr fünf Leute arbeiteten an den entsprechenden Tastaturen, mein Hund schnüffelte herum, wie das seine Art ist, überall vermischte Nachrichten, hochinteressant. Da kam eine junge Frau herein, gut gekleidet, wie man sagt, aus den middle classes.

Sie sieht meinen Hund, einen Cockerspaniel, und bittet höflich, aber dringendst, dass ich ihn anleine. Das will ich auch gleich tun, weil unverkennbar Panik aus der jungen Frau spricht, aber ehe ich das Tier greifen kann, hat sie sich schon zur Flucht entschlossen. Der schiere Anblick des Tieres löste eine Angstüberschwemmung aus, die sie nicht eindämmen konnte.

Ein echter Fall von Hundephobie, wie man ihn so klinisch rein selten zu sehen bekommt. Phobie definiert der Pschyrembel, ein weitverbreitetes medizinisches Wörterbuch, als eine „Zwangsangst, an bestimmte Vorstellungen oder Lebenssituationen gebundenes, inhaltlich grundloses Angstgefühl“.

Wäre ich zusammen mit der jungen Frau in einer entsprechenden Selbsthilfegruppe, ich könnte als Parallelstelle zu der Panik, in die sie jeder nahe Hund versetzt, meine Höhenangst anführen. Schon wenn ich bloß aus der vierten Etage runter auf die Straße schaue, stellt sich das bekannte schmerzliche Ziehen ein, als ob mich die Tiefe ansaugen wollte. So wie jeder Hund die junge Frau beißen würde, bis auf Blut.

Grundlos sei die Phobie? Man kann auch die Semiologie bemühen: Die (schreiende) Angst ist willkürlich. Zwischen ihr und ihrem Gegenstand besteht keine einsichtige Beziehung. Einem befreundeten Psychoanalytiker, dem ich von der jungen Frau und dem Cockerspaniel erzählte, fiel der Patient ein, der nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, aus seiner Stunde zu fliehen, als er auf einem Buchrücken eine Spinne entdeckte. Die konkurrierende Schule der Verhaltenstherapie empfiehlt ein hartes Desensibilisierungstraining. Agoraphobiker – Leute mit Platzangst – werden schrittweise an offene Räume gewöhnt und lernen, dass das Überqueren des Pariser Platzes in Berlin vollkommen ungefährlich ist; die Angst wird gewissermaßen mechanisch von ihrem Gegenstand getrennt; mit dem sie ohnedies nur zufällig verlötet war, folgt man dem Realitätsprinzip.

Aber hier entsteht ein schwerwiegendes Problem. Während Flugängstliche auch nach dem Concordeabsturz wenig Beifall für die Forderung fänden, der Luftverkehr sei überhaupt einzustellen, belehrt im Gegensatz dazu der eben tobende Hundekrieg über die Konsensfähigkeit der Hundephobie.

Es braucht bloß eine(r) ausführlich zu schildern, wie auf dem Trottoir ein Pitbull entgegenkommt, wie das Tier hasserfüllt blicke und innerlich praktisch schon im Ansprung sei, und besorgtes Kopfnicken ist die Folge. Dass der Hund den Passanten gar nicht anschaut – Hunde interessieren sich im Allgemeinen nicht für Menschen –, verrate seine besondere Tücke. Angeblich rieche er nämlich die Angst des Menschen, und davon werde seine unkalkulierbare Beißwut umso zwingender ausgelöst. Gern erzählt der Phobiker auch von der Verfolgungsjagd, die Joggern und Fahrradfahrern jederzeit droht; stets wollen Hunde sie umwerfen, um sich bequemer ans Zerfleischen machen zu können.

Alle Unfallmeldungen, mit denen die Medienerzählungen ja nicht gerade geizen in diesen Tagen, können in die phobische Urszene eingetragen werden, die stets auf Unberechenbarkeit und Blutdurst hinausläuft. Dass das Kind, das in die Nase gebissen wurde, sich dem angeleinten fremden Hund anscheinend in der Absicht näherte, ihn anzupatschen, dass also gar kein Fall von Unberechenbarkeit und Blutdurst vorlag, verschwindet in der phobischen Erzählung. Dochdoch!, versichert der mir befreundete Dichter W. ironisch, Hunde sind gefährlich! Er ist als Sechsjähriger von einem Schäferhund in die Nase gebissen worden – das Kind war auf den Rücken des Hundes geklettert und wollte ihn reiten . . .

Kurzum, während die Spinnen- und Ratten- und Agoraphobiker für ihre Versuche, die Grundlosigkeit der Angst mit Erklärung zu füllen, kaum Gehör fänden, stoßen die Hundephobiker leicht auf Zustimmung; bis in die Behörden hinauf. Das Phantasma einer unberechenbaren, jederzeit drohenden Gewalt, die auf Zerfleischen zielt, darf an den Hunden, am leichtesten den so genannten Kampfhunden, so festgemacht werden, dass die Grundlosigkeit der phobischen Zwangsangst verschwunden scheint.

Es würde lohnen, anhand der Hundephobie und ihrer Konsensfähigkeit dies Phantasma einer allzeit drohenden Gewalt genauer zu betrachten; der Blutdurst, den viele Leitartikler und Leserbriefschreiber anlässlich der bekannten Unfallmeldungen verrieten, zielte immer wieder auf eine reinigende Massentötung der so genannten Kampfhunde, was einen schon in Sorge um das gesamtgesellschaftliche Triebgeschehen bringen kann. Offensichtlich steckt die Gewalt weniger in den Hunden als in ihren Hassern; schwer leidet, wie uns schon Freud gezeigt hat, die Zivilisation an dem Aggressionstabu, das sie zugleich ermöglicht.

Aber ich möchte noch auf etwas anderes hinaus. Es empfiehlt sich sehr, die Phobie und ihren Gegenstand getrennt zu denken und die Grundlosigkeit dieser Zwangsangst anzuerkennen.

Die alte Frau Salzmann in meiner Straße wird von einer Verarmungs- und Beraubungsangst geplagt, die, sagt mein befreundeter Psychoanalytiker, viele Frauen in späteren Jahren befällt (alte Männer werden depressiv und verwahrlosen). Frau Salzmann, hoch geachtet in der Straße als freundliche und hilfsbereite Nachbarin, weiß genau, von wem die Beraubung droht. Es sind die Ausländer, insbesondere die Russen. In heller Wut kann sie von den russischen Hausfrauen erzählen, welche Unmengen Fleisch sie für ihre Familien an der Fleischtheke im Supermarkt ordern – als vermindere dieser russische Fleischkonsum unmittelbar die den deutschen Essern zur Verfügung stehende Menge. Besonders peinlich war neulich die Szene, als die alte Frau Salzmann stolz wie eine Heldensage erzählte, dass sie eine Russin, schwer bepackt mit Einkaufstaschen, daran hindern konnte, mit ihr gemeinsam im Fahrstuhl nach oben zu fahren. Sie hat sie richtig rausgedrängt, ist das nicht toll? – Selbstverständlich macht der Hass der alten Frau Salzmann bei den Russen nicht Halt, sondern ergießt sich bei Gelegenheit auf alle anderen Ausländer, die Kroaten sind Taschendiebe, die Schwarzen verderben mit Rauschgift unsere Jugend, und letzte Woche erkannte sie im Supermarkt die schiere Tücke in den Augen eines Briten.

Mit anderen Worten, die freundliche Frau Salzmann stellt einen schweren Fall von Xenophobie dar, Fremdenhass. Bei ihr hat sich die frei flottierende Zwangsangst nicht der Spinnen oder Ratten oder Hunde bemächtigt, sondern aller Nichteinheimischen, die sie so sicher zu erkennen meint wie der Hundephobiker die Beißwut des Pitbulls. Selbstverständlich geht der Fremdenhass fließend in Homophobie über, Schwule und Lesben verderben kleine Jungs und Mädchen und gehören zwangssterilisiert, auch hier hat Frau Salzmann einiges zu berichten.

Natürlich würde die alte Frau Salzmann die Grundlosigkeit ihrer Zwangsangst vor Ausländern so wenig eingestehen wie die Hundephobiker die Grundlosigkeit ihrer Angst vor diesen Tieren. Auch die alte Frau Salzmann verfügt über Erklärungen. Immerhin lebte sie schon 1945 in der Stadt, als die Russen – die Rote Armee! – Berlin eroberten, sie weiß stets Schreckliches zu schildern. Kaum weniger Schrecken verknüpfen sich mit den Briten (und den Amerikanern). Immerhin waren sie für die Flächenbombardements verantwortlich, denen ein Teil der Salzmann’schen Familie zum Opfer fiel.

Gleichwohl, während es dem Hundephobiker so leicht gelingt, den tückischen Blick plausibel zu machen, den im Treppenhaus, auf dem Trottoir, im Park jedweder Hund jedweder Rasse nach ihm wirft – kaum gezügelt von seinem Herrchen, dem ja, nach Einschätzung des Phobikers, das Angstmachen durch den Hund ein Herzensanliegen sei –, ganz im Gegensatz dazu findet die alte Frau Salzmann mit ihrer krassen Xenophobie nur schwerlich Zustimmung. Wohlwollend würde man sagen, das alles sei doch verdammt lange her. Es bezeugt die Grundlosigkeit der Xenophobie, dass sie erst nach so langer Latenz zutage tritt.

Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen. Gerade in unseren Kreisen gilt Xenophobie auch in schwächster Dosierung als vollkommen verächtlich, und noch der schüchternste Versuch der Rechtfertigung ruft massive Gegenmaßnahmen hervor – sodass man kontraphobische Abwehr diagnostizieren möchte: Unsere Ausländer, die rausmüssen, sind die Glatzen . . . Aber das wäre ein anderes Thema.

Ich wollte nur sagen: Die Gewissheit, mit der sich der Hundephobiker von Bullterriern ebenso wie Cockerspaniels bedroht weiß, ist dieselbe Gewissheit, mit welcher der Xenophobiker sich und alle anderen Deutschen von den Ausländern beschnitten sieht. Wenn man sich den Rationalisierungen der Xenophobiker verweigert, sollte man auch denen der Hundephobiker die Zustimmung versagen.

Erst dann kommen zivile Formen, Höflichkeit und Takt ins Spiel. Es tat mir wirklich Leid, dass ich in jener Szene bei den Geldautomaten nicht schnell genug war und mein Cocker die junge Frau in die Flucht schlug.

MICHAEL RUTSCHKY, 57, lebt als Alltagsbeobachter und Essayist in Berlin. Sein jüngstes Buch erschien unter dem Titel „Lebensromane. Zehn Kapitel über das Phantasieren“, Steidl, Göttingen 1998, 304 Seiten, 38 Mark

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