: In alter deutscher Tradition
Seit dem Ende der Shoah wurden in Deutschland über 1.000 jüdische Friedhöfe geschändet. Die Attacken werden immer häufiger und aggressiver, die Schändung von 103 Gräbern auf dem großen jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee belegt das
von PHILIPP GESSLER
Es war ein besonderer Familienausflug: Vor einem Jahr randalierten eine 36-jährige Frau mit ihrer Tochter (16) sowie dem Lebensgefährten der Mutter, 12 Jahre jünger als sie, ein wenig. Auf dem jüdischen Friedhof von Alsheim bei Mainz beschädigten sie fast 100 Grabsteine so stark, dass fast ein Drittel davon restauriert werden musste. Die Kleinfamilie aus dem Dorf Nackenheim, 20 Kilometer vor der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt gelegen, hatte einen Monat zuvor auch die Synagoge in Worms mit Sprüchen wie „Juda verrecke“ beschmiert. Der 24-jährige Mann stand der Jugendorganisation der rechtsextremistischen NPD nahe.
Das ist alles andere als ein Einzelfall. Seit dem Ende der Shoah wurden in Deutschland über 1.000 Schändungen jüdischer Friedhöfe verübt, wie der Historiker Adolf Diamant aus Frankfurt am Main in einer Studie herausgefunden hat, die heute im Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam vorgestellt wird und der taz vorliegt. Seit 1945 werden jährlich im Schnitt über 18 jüdische Friedhöfe geschändet – Tendenz steigend, wie die Studie belegt. In den 90er-Jahren hat sich die Zahl im Vergleich zu den 70er- und den 80er-Jahren sogar mehr als verdoppelt: Gab es zwischen 1970 – 1979 im Schnitt 19 und zwischen 1980 und 1989 knapp 17 Schändungen im Jahr, waren es in den 90ern über 40. Antisemitismus ist Alltag in Deutschland, die Verrohung nimmt zu.
Nun ist Feindschaft gegen Juden und die Schändung ihrer Friedhöfe fast so alt wie das Zusammenleben der christlichen Mehrheitsgesellschaft mit ihrer jüdischen Minderheit: Bei Pogromen gegen Juden im Spätmittelalter wie etwa 1439 in Augsburg oder 1489 in Nürnberg wurden auch die Ruhestätten ihrer Toten verwüstet – nach der Devise: Die Gräber unserer Feinde verdienen keine Ehrfurcht („Sepulcra hostium religiosa nobis non sunt“). Dabei galt das Tabu der Totenruhe eigentlich auch für Juden: Schon im 12. Jahrhundert erließen Päpste besondere Bullen zum Schutz jüdischer Friedhöfe. Herzog Friedrich II. von Österreich sanktionierte in seinem Judenprivileg von 1244 eine solche Schandtat sogar mit dem Tode, wie der Leiter des Mendelssohn-Zentrums, der Historiker Julius Schoeps, berichtet: „Wenn ein Christ einen Judenfriedhof zu verwüsten oder in ihn einzudringen sich unterfängt, so soll er nach Form rechtens sterben“ – und all sein Eigentum verfiel an den Herzog. Immerhin: Das war die Zeit der Kreuzzüge.
Trotz der Aufklärung ging die Barbarei in der Neuzeit weiter. Zwischen 1923 und 1932 gab es der Studie zufolge über 100 Schändungen jüdischer Friedhöfe. Und in der NS-Zeit wurden gar über 80 Prozent der damals etwa 1.700 Ruhestätten toter Juden geschändet.
Das Erschreckende ist: Auch nach Ende des deutschen Völkermordes ging die antisemitische Randale auf Friedhöfen weiter. Schon zwischen 1945 und 1948 wurden 26 Ruhestätten geschändet – seitdem nimmt die Zahl, mit Ausnahme der 80er-Jahre, Jahrzehnt für Jahrzehnt zu. Wenn der Holocaust in der öffentlichen Diskussion ist, nehmen die Verwüstungen auf jüdischen Friedhöfen zu, wie Schoeps herausgefunden hat: 1964, in der Zeit des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, verzehnfachte sich die Zahl der Schändungen kurzfristig. Einen Höhepunkt gab es auch 1978, als die US-Fernsehserie „Holocaust“ die Debatte um den Mord an den europäischen Juden neu entfachte. Dabei stellte schon 1966 das Bundeskriminalamt (BKA) in einer Analyse fest, im Vergleich mit Schändungen auf christlichen Friedhöfen sei der Anteil geschändeter jüdischer Gräber „erschreckend hoch“. Seitdem hat sich die Zahl dieser Schandtaten etwa verdoppelt.
Noch immer gibt es bundesweit 1.500 jüdische Ruhestätten – ein Bruchteil der Anzahl christlicher Gottesäcker, die natürlich auch gelegentlich geschändet werden. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied: Zum einen kommen Schändungen jüdischer Friedhöfe überproportional häufig vor, wie Diamant anhand eines Vergleichs der Schändungen in Frankfurt am Main nachweist. Zum zweiten sind die Verwüstungen in der Regel größer: Während bei Christengräbern meist gerade mal eine Rabatte zertreten wird, werden auf jüdischen Friedhöfe nicht selten gleich massenhaft Grabsteine umgehauen. Dabei verwenden die Randalierer oft die gleichen Sprüche, die in der Weimarer Republik oder in der NS-Zeit schon bei ihresgleichen populär waren, wie etwa „Tod den Juden“, „Juda verrecke“, „SS“ oder „Juden raus“. Eine deutsche Tradition.
Schoeps weist nach, dass Friedhofsschändungen dort besonders häufig anzutreffen sind, wo es traditionell einen starken, geschichtlich verankerten Antisemitismus gab oder gibt – wie etwa in Nordhessen, wo der „Bauernkönig Hessens“, Otto Böckel, herkam, der 1887 als erster Abgeordneter der Antisemitenpartei in den Reichstag einzog. Doch nicht nur auf dem platten Lande gibt es diese Untaten – das zeigte die Schändung von 103 Gräbern auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee, dem größten Europas, vor knapp einem Jahr.
Es gibt strukturell zwei Gründe, warum jüdische Friedhöfe für Grabschänder besonders geeignete Ziele darstellen, wie die BKA-Studie schon 1966 feststellte: Zum einen ist für Straftäter, die ihre Anschläge aus Sucht nach öffentlicher Wahrnehmung vornehmen (so genannte „Herostraten“), ein jüdischer Friedhof besonders reizvoll, da der doppelte Tabubruch – Antisemitismus und Verbrechen gegen die Totenruhe – eine sehr große Aufmerksamkeit garantiert. Zum anderen waren in den christlich geprägten mitteleuropäischen Gesellschaften jüdische Friedhöfe stets nur außerhalb der Dörfer oder Städte erlaubt – deshalb liegen sie noch heute in der Regel eher abseits: Eine Schändung ist so leichter im Geheimen durchzuführen.
So bleiben die Täter oft ungeschoren. Nur ein Drittel der Friedhofsschänder, so hat Diamant herausgefunden, werden von der Polizei ermittelt und von einem Richter abgeurteilt. Deshalb ist auch die Dunkelziffer nach seiner Einschätzung sehr hoch. Ein Grund liegt darin, dass Zeitungen eher selten über solche Barbareien berichten – auch, um Nachahmungstäter nicht noch zu ermutigen. Schoeps empört sich aber auch darüber, dass viele klar antisemitisch motivierte Schändungen von der Polizei nicht als rechtsextreme Straftaten registriert würden: Es reiche nicht, wenn der Täter angebe, aus Judenhass gehandelt zu haben, so der Historiker. Solange dem Randalierer keine Kontakte zu rechtsextremen Gruppen nachzuweisen seien, werde die Tat als nicht politisch motiviert eingestuft.
Angeblich nur ein Drittel der aufgeklärten Fälle entspringen der Polizeistatistik nach nazistischer Gesinnung. Das bezweifelt Schoeps – auch die Tatsache, dass sich diese Schändungen in der Zeit um Ostern im Frühling und um den Totensonntag im Herbst häufen, sieht er als deutliches Indiz für den antisemitischen Hintergrund der meisten Taten.
Ein jüdischer Friedhof ist ein „Beth olam“ – er soll nach jüdischem Glauben bis in Ewigkeit unberührt bleiben. Die Grabpflege hat im Judentum traditionell einen hohen Rang. Umso mehr schmerzt die über 85.000 Juden in Deutschland die Schändung der Gräber ihrer Toten, wie Andreas Nachama, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der größten Deutschlands, immer wieder mit Bitterkeit bemerkt. Die Ermittlungen wegen der Schändung in Weißensee vor einem Jahr und wegen des Bombenanschlags auf das Grab des früheren Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, im Dezember 1998 wurden mittlerweile beide ohne konkretes Ergebnis eingestellt.
Nachama beklagt, dass die Brutalität der Schändungen gestiegen sei: Nicht mehr einzelne Grabsteine würden umgestoßen, sondern gleich über 100. Eine Bombe ist auf Galinskis Grab gelandet, kein Stein. Den Schutz der Ruhestätten ihrer Toten aber, so der Gemeindechef, könne die jüdische Gemeinschaft gar nicht allein tragen. Dazu sei die Aufmerksamkeit aller Bürger nötig. Denn, das zeige sich überall, wo ganz normale Leute ein sorgendes Auge auf die Friedhöfe in ihrer Umgebung werfen, ob da nun Juden liegen, Christen, Muslime ode Atheisten: „Der beste Schutz sind die Nachbarn.“
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