: Ein Europa der starken Nationen
Jospin plädiert dafür, dass der Europäische Rat, das Gremium der EU-Regierungschefs, die Kompetenz erhält, das Europaparlament aufzulösen
aus Paris DOROTHEA HAHN
Monatelang hat Lionel Jospin zu Europa geschwiegen. Hat sich bis Dezember auf die Geschäfte der EU-Präsidenz konzentriert. Hat dann hinter verschlossenen Türen in seinem eigenen Land Meinungen von allen Seiten sondiert. Und hat die Politiker anderer Länder – ganz besonders Deutschlands – ganz allein ihre Visionen von der Zukunft Europas verbreiten lassen. Gestern dann ging der sozialistische Premier mit einer sorgfältig vorbereiteten 50-minütigen Grundsatzrede in die Offensive.
„Ich bin Franzose. Ich fühle mich europäisch“, sagte Jospin, bevor er sein Europa beschrieb. Es unterscheidet sich radikal von jenem, das sein sozialdemokratischer Kollege Schröder entworfen hat, und ist ganz nahe an der „Föderation der Nationalstaaten“, die Frankreichs neogaullistischer Staatschef Jacques Chirac vorschwebt und die schon der einstige Präsident der EU-Kommission Jacques Delors vor Augen hatte.
Jospin – der, wie er selbst sagte, als „politisch Verantwortlicher“ auftrat und nicht etwa als Premierminister oder gar als Präsidentschaftskandidat in spe – sprach vor JournalistInnen aus aller Welt und mehreren hundert Mitgliedern der besonders pro-europäischen sozialistischen Jugend (MJS). Ihnen lieferte Jospin eine Europabeschreibung, die von der europäischen Kulturproduktion über die Menschenrechte, die Sozialversorgung, die Arbeits- und Gewerkschaftsrechte bis hin zur Verteidigung des öffentlichen Dienstes reichte. Aus diesen gemeinsamen Werten, so Jospin, setze sich Europa zusammen. Darum werde es weltweit beneidet. Diese Rechte gelte es zu sichern und auszubauen.
Erst im letzten Drittel seiner Rede ging er auf die Institutionen und ihre Reform ein. Grundsätzlich sprach er sich für den Ausbau des Subsidiaritätssystems aus, wonach die Entscheidungen in der EU auf jener Ebene gefällt werden sollen, die tatsächlich davon betroffen ist. Unter anderem plädierte er dafür, dass der künftige Präsident der EU-Kommission aus der Partei gewählt werde, die die Mehrheit im Europaparlament stellt. Er plädierte dafür, dem Europäischen Rat – dem Gremium der Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer – die Kompetenz zu geben, das Europaparlament im Falle einer Blockade aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Außerdem schlug er vor, einen „permanenten Ministerrat“ zu schaffen, dessen Mitglieder, „eine Art von Vizepremierministern“, die Europapolitik zwischen Brüssel und ihren nationalen Hauptstädten koordinieren sollen.
Einem föderalen Europa erteilte Jospin hingegen eine klare Absage. Frankreich werde nicht das Modell der deutschen Bundesländer akzeptieren, versicherte er, genauso wenig wie das Modell der USA. Ohne ein einziges Mal den Namen des Bundeskanzlers zu nennen, distanzierte Jospin sich von seinem Amtskollegen und Parteifreund. „Europa“ sagte er gestern, „ist vor allem ein Inhalt. Erst danach ist es auch eine Form.“ Noch deutlicher wurde er am Ende seiner Rede. „Weil ich kein lauwarmer Europäer bin, will ich kein fades Europa“, sagte er da.
Das Konzept einer europäischen Verfassung hingegen, das auch schon Schröder und Chirac angeregt hatten, hat sich auch Jospin zu Eigen gemacht. Es soll, so Jospin, die in Nizza verabschiedete „Grundrechtecharta“ zur Grundlage haben.
Weitgehende Schritte verlangte Jospin in Richtung einer Angleichung der europäischen Rechtssysteme und der Polizeizusammenarbeit, einer neuen Agrarpolitik, die die Umwelt schone, und einer gemeinsamen Verteidigung der europäischen Kultur. In wirtschaftlicher Hinsicht – auch das ein Gegensatz zu Schröder – nahm Jospin die schon Mitte der 90er-Jahre gehandelte französische Idee einer Wirtschaftsregierung neu auf. Sie soll die Zentralbank und ihre Experten politisch kontrollieren.
Bei den jungen Sozialisten erhielt Jospin lang anhaltenden Beifall. Auch aus der PS meldeten sich umgehend euphorische Stimmen zu Wort. Jospins Rede war genauso nach innen wie an die europäischen Partner gerichtet. Vor den Auseinandersetzungen in seiner bislang erfolgreichen rot-rosa-grünen Koalition über die soziale und beschäftigungspolitische Lage Frankreichs ist Jospin auf das Terrain der Außenpolitik ausgewichen, die bislang dem Staatspräsidenten vorbehalten war. Er hat dabei Positionen markiert, die bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im nächsten Jahr eine Rolle spielen werden.
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