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Andere Umstände. Mehr nicht

Die Pille erlöste die Frauen von der Angst vor ungewollter Schwangerschaft. Immerhin. Doch zur Garantin für lustvollen Sex wurde sie nicht

von HEIDE OESTREICH

„Non in Schandalum“ steht eingeritzt auf dem kleinen Oval des Specksteins im Dresdner Hygienemuseum. Gedacht war er als Deckel für den Muttermund. Eine steirische Bäuerin benutzte das Ding um die Jahrhundertwende zur Verhütung. Das verballhornte Latein verweist auf die Schande, die ein uneheliches Kind jahrhundertelang bedeutete.

Der Stein: Zeichen des hilflosen Agierens der Frauen, die sich mit allen Mitteln zu versiegeln suchten gegen den Ansturm von Millionen Spermien in einem Liebesakt, der immer auch ein Akt verdrängter Angst war. Die Pille dagegen: Kein Herumhantieren mit Instrumenten und Säften von zweifelhaftem Nutzen. Ein Medikament, irgendwann eingenommen, unabhängig vom Sex, und die ganze Angst ist vorbei: elegant.

Am 1. Juni vor 40 Jahren tauchte die „grüne Sex-Bombe“ (Bild) auf dem westdeutschen Markt auf. Der Berliner Pharmakonzern Schering hatte den Hormonhammer „Anovlar“ 1961 entwickelt – und damit eine Zeitenwende eingeläutet. Eine der wichtigsten Erfindungen des 20. Jahrhunderts nennt man sie: Sexuelle Revolution, Befreiung des weiblichen Begehrens, Emanzipation – alles nicht denkbar ohne das grüne Ding, das die Eierstöcke lahm legt.

Wirklich? Hat die Pille die Frauen befreit? Zunächst einmal war sie ein Mittel der Familienplanung. Verschämt als „Mittel gegen Menstruationsbeschwerden“ mit der Nebenwirkung „empfängnisverhütend“ angekündigt, wurde die grüne Schering-Pille nur an verheiratete Frauen abgegeben, die keine weiteren Kinder mehr wünschten. Nur zögernd ließ die verklemmte Gesellschaft Anfang der Sechziger sich durch „Anovlar“ begücken: In den ersten drei Jahren verhüteten lediglich 1,7 Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter mit dem Hormonpräparat.

Die sexuelle Revolution also wurde keineswegs durch die Pille ausgelöst: Vielmehr eroberte sie die Pille für sich. Wilhelm Reich hatte die Studierenden über die „Massenpsychologie des Faschismus“ und die „Funktion des Orgasmus“ aufgeklärt: Faschismus und Kapitalismus, so die gängige These unter Sexualrevolutionären, erschaffen sich ihre willigen Subjekte mittels sexueller Repression. Sexuelle Befreiung war demgemäß erste Revolutionärspflicht. Das Glücksversprechen des Sex war so groß wie die Verklemmung, die seine Einlösung erschwerte.

Ende der Sechziger wurde das Private endgültig politisch: „Abtreibung – weiterhin eine Geldfrage?“, malten StudentInnen auf ein Demoschild, „Aufklärung und kostenlose Pille!“ auf ein anderes. Der Paragraf 218 sollte weg – und die Pille freigegeben werden. Man stahl sie der Mutter, bestach verheiratete Freundinnen, es kursierten Listen freigebiger Ärzte. Erst in den 70er-Jahren gaben die ärztlichen Tugendwächter auf, und das grüne Wunder für alle kam.

War das nun die Befreiung der weiblichen Lust? Promiske junge Frauen auf jeder Party, die goldenen 70er, in denen man jemand in der Kneipe ganz zwanglos zum Koitus einladen konnte . . . Es war eine Befreiung, aber eher als die Befreiung des Begehrens war die Pille die Befreiung von alten Ängsten. Sie war ein Vehikel, mit dem man sich individuell gesellschaftlicher Zwänge entledigte, statt diese zu beseitigen. Einer dieser Zwänge war die Angst vor dem „Schandalum“ – der Schande, die es für eine Frau darstellte, ein uneheliches Kind zu bekommen. Die Weltliteratur wird bevölkert von gefallenen Mädchen, Kinds- und Selbstmörderinnen: Fausts Gretchen, Wendla in Wedekinds „Frühlings Erwachen“, die Marquise von O. . . .Die Pille half, das Stigma des gefallenen Mädchens zu vermeiden, nicht aber, sich davon zu befreien. Es sollte bis in die 80er- und 90er-Jahre dauern, bis allein erziehende Mütter sich zur Normalbevölkerung zählen durften.

Ein zweiter Umstand war, dass es keinen Zugang zu Verhütungsmitteln gab: Als die Amerikanerin Margaret Sanger in den 50er-Jahren in den USA die Pille forderte, waren Verhütungsmittel Privileg der oberen Schichten. Verhütung galt als obszön; hatten Frauen überhaupt Geld für einen Arztbesuch, so waren diese keineswegs bereit, ihnen Diaphragmas und Portiokappen zu erklären. Eine Aufklärungskampagne, die dieser Not ein Ende bereitet hätte, gab es nicht. So blieb auch das Klima bestehen, in dem es unmöglich schien, zu fragen: Warum benutzten die Männer nicht einfach Kondome? 1855 bereits hatte Charles Goodyear das erste Gummikondom hergestellt – mit zwei Millimeter Dicke sicher nicht das, was man heute unter „gefühlsecht“ versteht, aber die Kondomindustrie hatte sich seitdem durchaus weiterentwickelt. Das führt direkt zum dritten Umstand:

Die Pille ist das einzige einfach zu handhabende Verhütungsmittel für Frauen. Die Kondomfeindlichkeit vieler Männer könnte durchaus mit dem Mythos vom heiligen Phallus zu tun haben, dessen Treiben sich nichts in den Weg zu stellen hat, schon gar kein Überzug, der von der Frau angemahnt wird wie das Mützchen des Knaben von der Mutter. Soll er tatsächlich aus dem heroischen Akt hervorgehen mit labberig verrutschtem Gummikleid, verschleimt vom eigenen Ejakulat, das doch als Triumphschuss in der Mitte der Frau landen sollte? Noch heute, obwohl Aids den Umgang mit dem Gummi auf eine pragmatischen Handlung reduziert hat, wundern sich die Beraterinnen bei pro familia über die Abwehr einiger Männer gegen das Kondom. Lustlosigkeit bis zum Erektionsverlust ist zu beklagen. Die Verhütung bleibt also der Frau überlassen, die ja, so der klammheimliche Gedanke, notfalls immer noch abtreiben kann.

Abtreibung aber ist – unter bestimmten Bedingungen – erst seit 1974 straffrei. Das absolute Abtreibungsverbot also war der vierte Umstand, der die Pille wie eine Verheißung erscheinen ließ.

Kein Wunder, dass Frauen in den Sechzigerjahren, eingeklemmt zwischen all diesen Unmöglichkeiten, „la pilule d’or“, die goldene Pille, begrüßten wie eine Erlösung. Erlösung, so muss man allerdings feststellen, unter den Bedingungen einer verklemmten und patriarchalen Gesellschaft.

Nicht von ungefähr verstummte die „Pillenkritik“ niemals ganz. Nebenwirkungen wurden bekannt: von harmlosen Kopfschmerzen und Übergewicht über Leberschäden, Thromboserisiken bis hin zur Förderung des Tumorwachstums reichen sie, das – unregelmäßig schlagende – „Pillenherz“ wurde entdeckt, depressive Verstimmungen und Libidoverlust – es gibt Ärzte, die von einem ganzen „Kontrazeptionssyndrom“ sprechen.

Alternativen suchen Frauen bis heute über viele Wege und Umwege: „Kopflesben“ taten es lieber ganz ohne Männer, Pillenkritikerinnen fingen an, mit ihren Gespielen nach anderen Mitteln zu suchen, das Diaphragma wurde herausgekramt, Verhütungsschwämmchen wurden wiederentdeckt, Temperaturkurven gemalt, Vaginalschleim wurde begutachtet. Bis der HIV-Virus endlich auch Männern einen zwingenden Grund gab, sich mit Kondomen anzufreunden. Der Mann übernimmt Verantwortung: Darin schlummert auch immer noch der Plan von der Pille für den Mann. Erforscht werden Testosteronspritzen oder blutdrucksenkende Mittel, als deren Nebenwirkung das Erlahmen der Spermienproduktion entdeckt wurde – nicht mehr allzu ferne Zukunftsmusik, seit sich in Umfragen eine breite Bereitschaft von Männern abzeichnet, zur Abwechslung mal ihre Körper für Verhütungsexperimente zur Verfügung zu stellen. Neuerdings ist sogar die Bereitschaft der Frauen gestiegen, ihnen hierin auch zu vertrauen.

Die Befreiung der weiblichen Lust durch die Pille? Die Pille nahm die Angst von den Frauen, sie gab ihnen nicht automatisch erfüllten Sex. In mühseliger Einzelarbeit wurde der weibliche Orgasmus entdeckt und gefordert – klitoral, vaginal, am Ende ganz egal, Hauptsache, frau kommt auch auf ihre Kosten. Die Pille löste zwar die Angst, die mit dem Sex verbunden war, aber eher denn als Befreierin gilt sie bis heute als Libidofresserin. Jede zweite Pillennutzerin klagt bei pro familia über die Minderung ihrer Lust.

Höchstens also Voraussetzung für die Reise in die eigenen Lustlandschaften ist die Pille bis heute – junge Mädchen, die Sex erst mal ohne Angst erkunden wollen, sind heute die Hauptnutzerinnen. Je älter die Frauen werden, desto pillenmüder werden sie auch.

Für die tatsächliche Erfüllung des eigenen Begehrens müssen Frauen von Männern unabhängig sein: ökonomisch und biologisch. Biologisch hat sich das Problem aber heute eher verkehrt: Keine Kinder zu wollen ist kein Problem mehr, Kinder zu wollen dagegen – ab einem gewissen Alter – immer noch. Das alte Spiel mit der Torschlusspanik hat sich um ein paar Jahre verschoben – jetzt wird unruhig und plötzlich äußerst kompromissbereit, wer mit 35 noch nicht den Richtigen für ein paar Jahre Familienleben fand. Die Fortpflanzungsmedizin, so erträumt es sich einer der Erfinder der Pille, Carl Djerassi, wird dafür sorgen, dass Frauen ihre Kinder unabhängig vom Mann und unabhängig vom Alter bekommen kann: Sie wird Eizellen von Frauen in jungen Jahren einfrieren lassen, die sie später ganz in Ruhe austragen können, mit welchem Freund, Mann, welcher Freundin auch immer. Wenn auch diese Torschlusspanik beseitigt ist, können Frauen munter ausziehen und beliebig lang nach dem Richtigen suchen. Und spätestens wenn Djerassis Traum in Erfüllung gegangen ist, werden Frauen und Männer sich fragen, was diese Freiheit eigentlich kostet.

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