: Nette Onkel und Tanten
Die liberalen KommentatorInnen klopfen wohlwollend den Demonstrierenden von Genua auf die Schulter. Sie sollten vielmehr deren Fragen an die Politik aufgreifen
Seit dem G-8-Treffen schauen publizistische Onkel und Tanten, von der FAZ über die Frankfurter Rundschau bis zum Spiegel, wohlwollend, aber besorgt auf Genua und die Folgen.
Lange bevor den wirklichen Verursachern der Gewaltorgie, den italienischen Polizeitroupiers, Brutalität und Rechtsbruch nachgewiesen wurde, wandten die Onkel und Tanten sich an die Antiglobalisierungsbewegung – die, wie wir inzwischen lernten, fälschlich so genannt wird –, um ihr eine Reihe von Wahrheiten nahe zu bringen. So wurde ihr aus berufenem Munde zum Ersten bescheinigt, dass ihr Anliegen nicht nur legitim, sondern auch richtig sei, sie deshalb zweitens strikt gewaltfrei und fantasievoll zu handeln und schließlich drittens den langen Marsch durch die Institutionen anzutreten habe.
In beinahe keinem Kommentar fehlte zudem der diskrete Hinweis, dass jene, die da protestierten, dies aus einer Situation des persönlichen Luxus und Wohlstands heraus taten. In fast allen Fällen wurde mehr oder minder nachsichtig ein Mangel an politischen Konzepten beklagt, eine Selbstüberschätzung der eigenen Kräfte notiert sowie der dringende Hinweis erteilt, künftig die nicht eben einfache Aufgabe zivilen Ungehorsams korrrekt zu meistern.
Abgesehen davon, dass all diese Ratschläge die Mehrzahl der in Genua aufgetretenen Gruppen gar nicht trafen, zeichnet sich dennoch ein klassisches Deutungsmuster ab: In Genua waren gutgläubige Gesinnungsethiker am Werk, „Wiedertäufer“ – wie der Soziologe Erwin K. Scheuch die 68er Studentenbewegung nannte – nun nicht mehr der Wohlstands-, sondern der Weltgesellschaft. Am Ende – so die Utopie der meisten wohlwollenden Kommentatoren – werden die leitenden Köpfe der Bewegung zu eifrigen Parlamentariern, mittleren Beamten internationaler Institutionen und mächtigen Geschäftsführern von NGOs, um dort beim „beharrlichen Bohren dicker Bretter“ (Max Weber) die Realität der Weltgesellschaft kennen zu lernen, wider die sie nun aufbegehren. Beunruhigt waren die Kommentatoren mit wenigen Ausnahmen allenfalls, wenn sie sich vor Augen führten, dass eine konsequent verfolgte „Antiglobalisierungspolitik“ zu einem neuen Nachdenken über den Nationalstaat führen könnte.
Nun haben die in Genua versammelten demokratischen „Führer“ nicht nur den Despoten Wladimir Putin willkommen geheißen, der genozidaler Weisungen in Tschetschenien verdächtigt wird, sie haben auch der Welt der „zivilen Gesellschaft“ einen Dialog angeboten – aber nur die liberale Presse hat geantwortet.
Fühlte sie sich zu Recht angesprochen? Wer verbirgt sich hinter der von den Regierungschefs adressierten „zivilen Gesellschaft“? Die Leser der liberalen Presse, also jene WählerInnen, die noch einmal nachdenken, bevor sie ihre Stimme abgeben? WählerInnen vielleicht, die sich sogar eine Stimmenthaltung überlegen, wenn ihre ehemals präferierte Partei nun eintritt für die Liberalisierung der Handelswege, die Aufkündigung jedweden Protektionismus und die damit verbundenen Folgen wie Verarmung ganzer Länder und Bevölkerungsschichten – oder die Partei einsteht für die Einschränkungen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und ratlos wirkt, wenn es um Fluchtbewegungen und Krankheiten vor allem im Süden des Globus geht.
Protestbewegungen, das ließ sich von Niklas Luhmann lernen, stehen mit den Medien in einem rückgekoppelten Resonanzverhältnis und reagieren keineswegs auf das, was der Fall ist, sondern konstituieren eine Realität eigenen Rechts. Diese Realität ist derzeit die des Protests, von im Grundsatz praktikablen, aber absolut chancenlosen Vorschlägen wie einer nach dem Nobelpreisträger Tobin genannten Finanztransaktionssteuer. Anders als heute galt früher, dass nicht der Kritiker, sondern der Kritisierte, den schließlich niemand in seine Ämter gezwungen hat, die Last dafür trägt, die Dinge zum Besseren zu wenden.
In den gegenwärtigen Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands etwa tragen Menschen Verantwortung, die jene von den liberalen Kommentatoren geforderte Mischung aus theoretischem Weitblick, reformistischem Augenmaß und politischer Geduld aus ihrer eigenen politischen Jugend mit einer Virtuosität beherrschen sollten, die von den Aktivisten der Antiglobalisierungsbewegung noch nicht an den Tag gelegt werden konnte. Alles, was die sympathisierende Presse diesen an Rat erteilte, wäre schon heute – mit Ausnahme des letztlich langweiligen, weil stereotypen Gewaltdiskurses – bei Politikern wie Gerhard Schröder und Lionel Jospin, Joschka Fischer und Tony Blair weitaus besser aufgehoben. Warum also richtet die mit der Bewegung sympathisierende Presse ihre Forderungen nicht an Regierungen und Parlamente? Etwa deshalb, weil sie nur allzu genau weiß, dass Regierungen und Parteien an der Macht derlei Forderungen ohnehin nicht aufnehmen können?
Immerhin haben sich sehr vereinzelte Mitglieder der politischen Klasse aus der Reserve getraut, so der bei aller realpolitischen Ernüchterung stets streitlustige Daniel Cohn-Bendit oder der keiner Parteidisziplin mehr unterliegende Oskar Lafontaine. Vor allem aber hat ein leibhaftiges Mitglied des Bundeskabinetts, die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit Heidemarie Wieczorek-Zeul, Wirkung gezeigt und öffentlich nicht nur eine Reform der ungerechten terms of trade zwischen Nord und Süd und das Ende des EU-Agrarprotektionismus gefordert, sondern auch auf das Demokratie- und Gerechtigkeitsdefizit des G-8-Clubs hingewiesen.
Tatsächlich: Stärker, als es jede Debatte über eine Reform der UNO vermöchte, haben die Demonstranten von Seattle bis Genua die Frage nach der politischen Verfassung der in sich grenzenlosen Weltgesellschaft gestellt. Auf die Frage freilich, wie und wo anders als im Nationalstaat effektive Demokratie walten kann, hat noch niemand eine überzeugende Antwort gefunden. Demokratie jedenfalls ist stets eine Form des politischen Systems, nicht der Gesellschaft. Sie kann bestenfalls liberal in ihren Umgangsformen sein, niemals aber demokratisch in ihrer Verfassung. Wer also von einem (föderalen) Weltstaat träumt, agiert wirklich mit geschlossenen Augen.
Die Kritiker der Globalisierung haben weder Grund noch Anlass, sich bereits zu diesem Zeitpunkt auf einen zweifelsohne wünschbaren reformistischen Diskurs einzulassen. Immerhin sind die Missstände nun offensichtlich und die Regierungen gefragt. Sie bedürfen allerdings weniger eines Dialogs mit der „zivilen Gesellschaft“ als eines ernsthaften Dialogs mit sich selbst und ihren Parlamenten.
Mit Blick auf unsere publizistischen Onkel und Tanten: Daran, ob die wohlmeinenden Begleiter der Antiglobalisierungsbewegung Politikerinnen wie Wieczorek-Zeul in ihren Anstrengungen unterstützen, wird sich weisen, ob ihre Sympathie mit den Demonstranten von Genua mehr war als nur nostalgiegetränktes Schulterklopfen.
MICHA BRUMLIK
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen