: We don’t want Papa Sam
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
In den USA gab es durch den Anschlag 7.000 Tote. Aber an jedem Tag sterben 30.000 Kinder unter fünf Jahren an Hunger. Das heißt doch, dass das Leben dieser Kinder nicht zählt. Wenn man das nicht in Betracht zieht, hat man nichts verstanden. Wie der amerikanische Präsident George W. Bush, der glaubt, die USA seien allein auf der Welt. Bernard Cassen, Präsident von Attac, im Berliner „Tagesspiegel“ vom 17. Oktober 2001
Es soll sehr gute Gründe geben, sich theoretisch und praktisch gegen die so genannte Globalisierung zu engagieren. Leider halten die Gegner damit meist hinter dem Berg; was man zu hören bekommt, sind in der Regel kindliche, womöglich kindische Schimpf- und Klagereden gegen die USA, ein Antiamerikanismus, der immer gleich hinzufügt, dass er überhaupt keiner sei, bösartige Unterstellung, ätsch.
Was der Präsident dieser frankophonen Vereinigung für die Einführung der Tobin-Steuer über die WTC-Toten zu sagen wusste, entspricht dem Genre der kindlichen Schimpf- und Klagerede besonders prägnant. Sie läuft stets darauf hinaus, dass die USA ihrer Verantwortung für jedwedes Geschehen auf der Welt nur unwillig und partiell nachkommen. Über die läppische Zahl der WTC-Toten machen sie ein solches Gewese, von patriotischen Erweckungsfeiern daheim bis zum Krieg in Afghanistan – die 30.000 toten Kinder täglich ignoriert George W. Bush dagegen. Das ist doch wieder typisch für die USA!
Der Präsident Cassen verrät nicht, was das für eine Zahl ist, wie sie sich zusammensetzt. Es geht ja weniger um ein statistisches Datum denn um eine rhetorische Geste: Es könnten auch 51.000 oder 17.000 tote Kinder sein, die Bush täglich ignoriert. Hauptsache, die Zahl übertrifft die der WTC-Toten ordentlich.
Nehmen wir an, der Präsident Cassen habe die Kinder vor Augen, die angeblich täglich im Irak sterben infolge des amerikanischen Embargos. Es könnten auch die toten Kinder sein, von denen man jetzt öfter liest: Sie starben in den letzten Jahren regelmäßig in Afghanistan wegen der anhaltenden Dürre und wegen der kalten Winter, und jetzt kommen auch noch die Flüchtlingskinder dazu. Wahrscheinlich herrscht auch irgendwo in Afrika gerade wieder eine Hungersnot, die viele Kinder tötet. Sie alle ignoriert der amerikanische Präsident – im Unterschied zu Präsident Cassen, der auf seine Einsicht in die Zusammenhänge mächtig stolz ist.
Dabei kann man bestreiten, dass diese Zusammenhänge existieren. Das schlechte Leben im Irak haben Saddam Hussein und sein Clan zu verantworten; die Dürre in Afghanistan zeitigte weniger schreckliche Folgen, wenn sich die Taliban-Regierung mehr für Ökonomie als für religiöse Purifizierung interessierte; was die wiederkehrenden Hungersnöte in Afrika angeht, so gibt es gute Gründe, sie politisch zu erklären: Herrschende Cliquen lassen Bevölkerungsgruppen hungern, um sie zu disziplinieren, wie schon bei Stalin.
Nun wird der Antiamerikanismus, wie ihn der Präsident Cassen und seinesgleichen vertreten, diese Einwände zurückweisen. Mit kindlichem, aber deshalb auch ein wenig blödem Scharfsinn sucht man allüberall die USA als Verursacher. Haben sie, bevor sie ihn bekämpften, Saddam nicht überhaupt erst groß und stark gemacht? Gilt nicht dasselbe auch für die Taliban und Ussama Bin Laden? Waren sie den USA doch lieb und wert, als es gegen die UdSSR ging! Warum unterstützen die USA in Afrika die Kleptokratien, statt Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu erzwingen, an denen ihnen, höhöhö, angeblich doch so viel liegt!? Was Stalin angeht, so erinnere ich aus den Fünfzigern diese Art kindisch-höhnischen Scharfsinns von vereinzelten deutschnationalen Kadern: Jetzt bekämpfen die USA die Sowjets überall auf der Welt als Erzfeind – dabei haben sie Stalin als Alliierten gegen Hitler, höhöhö, doch erst stark gemacht!
Um auf die Globalisierung zurückzukommen, sie scheint längst vollendet. Allüberall haben sich die USA als Hegemonialmacht durchgesetzt; ob Irak, BRD oder Israel: das sind doch Satellitenstaaten. Wenn sie den Forderungen der USA widerstehen – wie jetzt die Scharon-Regierung –, dann zeigt das bloß, dass die USA nicht genug Druck machen. Längst hätten sie den Neubau jüdischer Siedlungen auf der Westbank verhindern müssen, nicht wahr? Oder sind sie womöglich gar nicht so mächtig, wie sie immer tun? Oder verfolgen sie im Geheimen ganz andere Absichten!?
Mir scheint also, dass der Antiamerikanismus, wie ihn der Präsident Cassen und seinesgleichen verfechten, wie er in unseren Kreisen aus zahllosen Leitartikeln und Leserbriefen spricht –mir scheint, dass dieser Antiamerikanismus die USA nach dem Vorbild der Eltern-Imago auffasst, gegen die das Kind immer wieder mit gleichzeitig scharfsinnigen und dummen Vorwürfen, das Tun und Lassen von Vater ebenso wie Mutter betreffend, zu rebellieren pflegt. Schadet meiner Mutter gar nichts, wenn mir die Hände abfrieren, lautet ein Berliner Spruch: Warum kauft sie mir keine Handschuhe?! Und Vater ist den ganzen Tag im Büro . . . So verfährt die kindliche Logik der Vorwürfe gegen die USA.
Wie gesagt, sie betreffen Tun ebenso wie Lassen. Während des Kosovokrieges bemerkte ein befreundeter Romancier aus Ostberlin, nachdem er ausgiebig die US-Luftangriffe beklagt hatte, plötzlich von sich selbst überrascht: Was seinesgleichen wohl über die USA sagen würde, wenn sie Milošević im Kosovo freie Hand gelassen hätten? Während des Krieges in Bosnien-Herzegowina war ihnen schließlich anhaltend Nichtstun vorgeworfen worden; die ohnmächtigen UNO-Soldaten mussten bei den Massakern zusehen: Und die USA, höhöhö, wussten nicht einmal, wo genau sich das Land befindet.
Das Kind versucht auch immer wieder, Vater gegen Mutter auszuspielen. Hierher gehört der scharfsinnige Vorwurf, dass die USA Nahrungsmittelpakete abwerfen (Mutter), während sie Bombenangriffe fliegen (Vater). Das passt doch unmöglich zusammen! Unmäßiger Stolz erfüllt das Kind, weil es diesen Widerspruch zwischen Vater und Mutter entdeckt hat. Was würde es denn sagen, wenn bloß Bomben fielen? Typisch für Vaters rücksichtslose Aggressivität. Und, während einer Feuerpause, ausschließlich Nahrungsmittel-Lieferungen? Typisch, wie Mutter wieder Vaters Fehlverhalten deckt – der dann gleich den Krieg fortsetzen kann, auch noch mit gutem Gewissen.
Es kommt mir so vor, als ob auch die sog. Tobin-Steuer, die Präsident Cassen und seinesgleichen als Wundermittel gegen die wirtschaftliche Ungerechtigkeit auf der Welt propagieren, dem kindlichen Scharfsinn entspricht – vor allem der kindlichen Logik, insofern sie ökonomischen Reichtum als Verteilungsproblem auffasst. Auch das Kind ist ökonomisch zur Ohnmacht verurteilt, kann keine Initiative ergreifen, muss um die guten Gaben bitten und immer wieder feststellen, dass es stets zu wenig bekommt.
Es mag sein, dass wir unterdessen alle Kinder Amerikas sind. Aber wir sollten aufhören, uns so kindisch zu benehmen.
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