piwik no script img

Zu wenig ans Bein gepinkelt

■ Prozess gegen drei Sozialarbeiter wegen fahrlässiger Tötung eines Heimbewohners: Warnungen nicht ernst genommen

Rivalitäten und Kompetenzgerangel unter den Sozialarbeitern, Zuständigkeitswirrwarr und Entscheidungsmangel sowie krasse Fehldiagnosen: Das sind offenkundig die Ursachen dafür, warum der 68 Jahre alte Otto-August Aschberg im April 1999 in seinem Zimmer in der Wohnunterkunft Berzeliusstraße hilflos und verwahrlost zu Tode kam. Trotz Anhaltspunkten für eine Erkrankung holte niemand ärztliche Hilfe, Hinweise wurden nicht ernst genommen oder falsch gedeutet. Drei Sozialarbeiterinnen müssen sich deshalb seit gestern vor dem Landgericht wegen fahrlässiger Tötung verantworten.

Wer im Männerwohnheim Berzeliusstraße des staatlichen Trägers Pflegen & Wohnen landet, hat die „Schlussstation“ vor dem Pflegefall erreicht. So auch der Eigenbrötler Aschberg. Zu den Mitbewohnern hat er kaum Kontakt, Hilfe der Sozialen Dienste lehnt er ab. Dennoch schlägt Unterkunftsleiter Georg R. Alarm. Bereits im März kurz vor seinem Urlaub macht er das Amt für Soziale Dienste auf eine Erkrankung Aschbergs und den „erschre-ckenden Zustand“ aufmerksam. Die Antwort per Fax: Er solle sich gefälligst um seinen Job kümmern, die zuständige Sozialarbeiterin Mendula K. fühlt sich sogar „ans Bein gepinkelt“.

Zwar sucht sie mit ihrem Kollegen Günther T. am 19. März Aschberg auf, doch als der ihnen im verkoteten Pyjama den Zutritt verwehrt und jegliche Hilfsangebote ablehnt, ziehen beide wieder ab. „Er hat klare Antworten gegeben und wirkte körperlich fit“, beteuert T. Zwar setzt K. bei der Behörde nach, doch für eine zwangsweise Einweisung in ein Krankenhaus oder Pflegeheim sehen alle keine Voraussetzungen.

Auch als K. und ihr Kollege Hartmut S. von der Altenfürsorge des Ortsamtes Billstedt am 1. April nochmals die Wohnung aufsuchen, erkennen beide den Ernst der Lage nicht. Aschberg liegt reaktionslos „unter einer Decke“ in seinen Exkrementen im Bett. „Er döste vor sich hin“, denkt S.: „Aus meiner Sicht konnte man gar nichts machen, ich war hilflos.“

Erst als Heimleiter R. – frisch aus dem Urlaub zurück – noch am selben Tag von Aschbergs Nachbarn Alfred S. auf den dramatischen Gesundheitszustand hingewiesen wird, kommt Bewegung in die Sache. R. alarmiert die Sozialen Dienste, K. eilt erneut herbei und findet Aschberg bewegungslos in einer Lache aus Urin und Kot. Der Rettungshubschrauber, Notarzt, Feuerwehr und Polizei rücken an – zu spät: Tags darauf verstirbt Aschberg an Unterernährung und einer verschleppten Lungenentzündung.

Der Prozess wird fortgesetzt.

Kai von Appen

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen