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Letztes Privileg für einen Schreibtischtäter

Der frühere NS-Kollaborateur Maurice Papon wird aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus der Haft entlassen

Maurice Papon hat sein Leben lang Privilegien genossen, wie sie den meisten Franzosen verwehrt bleiben. Gestern fiel dem einstigen Spitzenbeamten des Vichy-Regimes und Exminister der Französischen Republik das vielleicht letzte in den Schoß. Das Appellationsgericht von Paris entschied, ihn nach Absitzen von knapp drei Jahren seiner zehnjährigen Haftstrafe wegen Mithilfe bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit freizulassen.

Aus medizinischen Gründen. Vergangene Nacht begann der einstige Generalsekretär der Präfektur der Gironde, der vom Schreibtisch aus die Deportation von mehr als 1.400 Juden aus Bordeaux in Vernichtungslager organisiert hat, seinen Lebensabend als freier Mann in seiner Residenz bei Paris. Zur Begründung zitierte das Gericht ärztliche Gutachter. Sie haben bei dem 92-jährigen Herz- und andere Leiden diagnostiziert, die nicht mit einem Gefängnisaufenthalt kompatibel seien.

Gegen die Entscheidung hatte nicht nur die Staatsanwaltschaft plädiert, sondern auch ein Teil der französischen Öffentlichkeit. Nachdem Staatspräsident Chirac in der Vergangenheit bereits zwei medizinisch begründete Gnadengesuche von Papon abgelehnt hatte, kommentierte gestern Justizminister Dominique Perben zähneknirschend: „Ich nehme es zur Kenntnis.“ Die Antirassismusgruppe MRAP sprach von einer „Beleidigung für Papons Opfer“. Und eine Häftlingssolidaritätsgruppe listete auf, dass in den französischen Gefängnissen dutzende schwer kranker alter Menschen ihrem Ende hinter Gittern entgegenkrepieren – ohne dass sich irgendjemand für ihre vorzeitige Haftentlassung engagiert.

Papon hat seine Karriere durch die Spitzeninstitutionen der französischen Systeme des vergangenen Jahrhunderts als Beamter des Vichy-Regimes begonnen. Er setzte die von NS-Deutschland übernommene antisemitische Politik in die Tat um. Nach der Befreiung 1944 schaffte Papon einen nahtlosen Übergang vom Vichy-Regime in die Republik – und in die nächste Führungsfunktion. Während der blutigen Repression gegen die algerischen Unabhängigkeitskämpfer diente er dem Kolonialreich als Präfekt in Constantine.

In den 60er-Jahren avancierte er zum Polizeichef von Paris – wo unter seiner Verantwortung auch das Polizeimassaker an algerischen Demonstranten in einer Oktobernacht 1961 stattfand. Seinen Karriereabschluss schaffte Papon Mitte der 70er-Jahre. Da machte ihn Präsident Valéry Giscard d’Estaing zum Haushaltsminister.

Einflussreiche Seilschaften hatten Papon nach Kriegsende zu einer Bescheinigung über seine angebliche „Résistance“ verholfen. In den 80er-Jahren, als Angehörige der deportierten Juden aus Bordeaux erstmals versuchten, ihn vor Gericht zu bringen, sorgten Papons alte Kumpel dafür, dass das Verfahren um 17 Jahre verschleppt wurde.

Papons Haftentlassung schließt in Frankreich das Kapitel der juristischen Bewältigung der Vichy-Vergangenheit. Der 92-jährige Ex-Spitzenbeamte ist, mit dem in der Haft gestorbenen französischen Milizionär und Mörder Paul Touvier, der einzige Franzose, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde. Es war ein Stellvertreterurteil. Die anderen noch lebenden Verantwortlichen des Kollaborateursregimes von Vichy brauchen keine Verfolgung zu befürchten. DOROTHEA HAHN

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