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Ein fast normaler Morgen

Wer am ersten Tag des Prozesses gegen Mounir El Motassadeq einen Platz im Gerichtssaal haben wollte, musste gestern früh aufstehen: Von durchleuchteten Schuhen, verbotenen Luftpumpen und entrüsteten Freunden des Angeklagten

von SANDRA WILSDORF

Es ist noch dunkel: 5.30 Uhr. Etwa 30 Journalisten warten vor dem Strafjustizgebäude am Sieve- kingplatz darauf, dass es sieben Uhr wird, die Tür aufgeht und sie eine günstige Startposition im Kampf um die wenigen Plätze im Prozess gegen Mounir El Motassadeq ergattern. Im Hintergrund summen die Stromaggregate der Übertragungswagen von NDR, ZDF und BBC, die hier schon die ganze Nacht stehen. Es ist der weltweit erste Prozess um die Anschläge vom 11. September, der an diesem Morgen vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht beginnt.

Man kennt sich, plaudert über die temperaturmäßig überflüssigen langen Unterhosen. Eine Frau taucht auf, schreit ihren Kollegen an, der wohl nicht so weit vorne steht, wie sie es gerne hätte: „Du darfst Dich nicht abdrängen lassen, ich muss einen guten Platz haben.“ Sie teilt mit, sie sei „die Nummer acht“ und schiebt sich nach vorne.

Ab und an kommt jemand und tut das Gleiche mit den Worten „Ich muss hier arbeiten.“ Als wären die Journalisten zum Vergnügen da. Die Justizangestellten finden ihren täglichen Weg zur Arbeit versperrt und gehen damit mehr oder weniger gut gelaunt um. „Wenn ich nicht reinkomme, kommen Sie auch nicht rein“, macht ein Mann gleich klar, auf wen es ankommt. Ein französischer Journalist weiß nicht, wo er eine Akkreditierung bekommt, und einer, der für eine japanische Zeitung schreibt, ist ratlos: Muss er doch wegen der Zeitverschiebung bis mittags schreiben und den Gerichtssaal dafür verlassen. Wie kommt er dann wieder rein? Ab und an gehen gleißende Scheinwerfer an, und Filmer filmen Filmer. Der arabische Sender El Dschasira ist auch da.

Die Schlange wird länger. Um die Ecke beim Besuchereingang sitzen derweil zwei Frauen, trinken Kaffee aus der Thermoskanne und wundern sich: „Wir dachten, es würde voller“. Kurz danach kommen drei Freunde des Angeklagten. Sie haben ihn seit über einem Jahr nicht gesehen. Einer von ihnen klagt über die Berichterstattung einiger Medien, die von Terror, Terroristen und al-Quaida handele, als wäre das Urteil schon gesprochen. „Wir versuchen, darüber zu lachen“, sagt er und findet es „wirklich diskriminierend“, dass El Motassadeqs Vater kein Visum für den Prozess bekommen hat.

Um sieben Uhr öffnen die Justizbeamten den Journalisten-Eingang. Frauen links, Männer rechts: Abtasten, Schuhe ausziehen und durchleuchten lassen, ebenso wie Tasche und Jacke. Handys müssen draußen bleiben, Luftpumpen auch. Jeder Kugelschreiber wird untersucht. Dann heißt es Schlangestehen: Gelbe, blaue oder rote Linie, je nachdem, ob man für hamburgische, deutsche oder internationale Medien berichtet.

Am Ende ist zur allgemeinen Überraschung im Saal für alle Platz. Am Besuchereingang warten die Menschen bis 8.30 Uhr. Nach wesentlich schlichteren Kontrollen sind auch die gerade mal 20 Besucher im Saal. Die, die schon drinnen sind, vertiefen sich vor dem Prozessbeginn noch für eine halbe Stunde in die tägliche Zeitungslektüre. Ein fast normaler Morgen.

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