Architektur-Filme „Streetscapes“: Reise zurück in die Moderne
Urbane Räume in Georgien, Israel und Südamerika – der Künstler Heinz Emigholz besucht sie in seiner vierteiligen „Streetscapes“-Serie.
Für diese Berlinale hat der Künstler und Filmemacher Heinz Emigholz ein Paket aus vier Filmen geschnürt und präsentiert „Streetscapes, Kapitel I bis IV“ im Programm des Forums. Zwei der abendfüllenden Filme, Kapitel II und IV – „Bickels (Socialism)“ und „Dieste (Uruguay)“ – setzen die Reihe der fast kommentarlosen Architekturessays des Filmemachers fort. So waren etwa „Goff in der Wüste“ 2003, „Schindlers Häuser“ 2007 und „Loos Ornamental“ 2008 auf der Berlinale zu sehen.
In „Bickels (Socialism)“ nähert sich Emigholz in chronologischer Reihenfolge mit kurzen Standbildern 22 Gebäuden des Kibbuz-Architekten Samuel Bickels (1909–1975) in Israel an.
Der in Lemberg geborene und in Polen ausgebildete Baumeister ging 1933 nach Palästina. Gemeinsam mit den Bewohnern der Kibbuzim entwickelte er dort für die Bedürfnisse des Kollektivs Speisesäle, Turnhallen oder Versammlungsräume, umgeben von mediterranen Parkanlagen – einer Gartenstadt ähnlich.
Aufwendige Deckenkonstruktionen
Im „Mishkan Museum of Art“, das Bickels 1948 für das Kibbuz Ein Harod plante, fängt die Kamera Bilder von der Bibliothek, den Treppen, Fluren und dem Garten ein. Eine außergewöhnliche Deckenkonstruktion lenkt dort das Tageslicht über die Oberlichter in die Ausstellungsräume.
Der Gesang von Vögeln bildet das Grundrauschen zum Film. Nur selten sind Menschen zu hören oder zu sehen. Doch irgendwo im Bild steht immer ein Stuhl, mal pragmatisch aus Plastik, als Sitzgruppe oder in einer Reihe eines Auditoriums. Emigholz gelingt es, die historische Idee der Kollektivbauten, aber auch das Leben mit ihnen sichtbar zu machen.
Ein „Prolog“ über ein ehemaliges jüdisches Gemeindezentrum in São Paulo und ein „Anhang“ über das Schicksal eines Kibbuz in Stalins Sowjetunion kontextualisieren die Architektur Samuel Bickels’ auf eigenwillige Weise. Aufmerksam folgt man über 90 Minuten der minimalistisch angelegten Filmdramaturgie, die ausgehend von Gebäuden Reflexionen in verschiedene Richtungen eröffnet.
"2+2=22 (The Alphabet)": 18.2., 11 Uhr, CineStar 8
"Bickels (Socialism)": 18.2., 13:45 Uhr, CineStar 8
"Streetscapes (Dialogue)": 19.2., 11 Uhr, CineStar 8
"Dieste (Uruguay)": 19.2., 14:15 Uhr, CineStar 8
„Streetscapes“ – der übergeordnete Titel der vier Filme im Programm erschließt sich schon im ersten Kapitel „2 + 2 = 22 (The Alphabet)“. 2013 begleitete Heinz Emigholz dafür die Musikband Kreidler zu Studioaufnahmen ihres Albums „ABC“ nach Tiflis. Er kombinierte die Studiosituation mit Straßenaufnahmen aus der georgischen Hauptstadt und mit Ansichten seiner Notizbuchseiten.
Anleihen von Godard
Zu den Bildern spricht die Schauspielerin Natja Brunckhorst aus dem Off: „Es gibt Straßen, Pfade, Autobahnen … Leidenswege, Kreuzwege … Straßen in den Abgrund, Wege der Liebe und Reisen der Sehnsucht …“ Das Spiel mit Anleihen aus Jean-Luc Godards Filmessay „One plus One“ und den Studioaufnahmen der Rolling Stones von 1968 entwickelt dabei seinen ganz eigenen Reiz und einen zusätzlichen Subtext.
2015 reiste der Berliner Filmemacher dann nach Uruguay. Dort filmte er für „Streetscapes (Dialogue)“ in den modernistischen Räumen des heute als Museum genutzten Wohnhauses des Architekten Julio Vilamajó (1894–1948) und auch vor den dynamischen Ziegelbauten Eladio Diestes.
In diesem avantgardistischen Setting inszenierte Emigholz eine zweistündige, autobiografisch inspirierte Konversation zwischen einem Filmregisseur (John Erdman) und seinem Analytiker (Jonathan Perel). Eine Beziehung zwischen dem Dialog und der Architektur Vilamajós oder Diestes stellt sich jedoch nicht unbedingt automatisch ein und wirkt darum etwas forciert.
Filmische Dokumente aus Uruguay
Während seines Uruguay-Aufenthaltes entstand auch eine filmische Dokumentation der 29 Gebäude von Eladio Dieste (1907–2000), die mit drei Gebäuden des älteren Baumeisters Julio Vilamajó beginnt und Kapitel IV der Streetscapes Serie bildet: „Dieste (Uruguay)“.
Dieste, Architekt und Ingenieur, entwickelte ab den 1960er Jahren in Uruguay erstaunlich elegante, großflächige Bogen- und Wellendächer aus unverputzten Ziegeln. Wie in „Bickels“ nähert sich Emigholz in diesem Film über Diestes virtuose Konstruktionen kommentarlos, chronologisch und durch Abfolgen von Standbildern den Garagen, Industriehallen, Busterminals, Shoppingcentern oder Kirchen des Baumeisters.
In Atlántida, einem Badeort im Süden des Landes, befindet sich seine 1955 komplett aus Ziegeln begonnene „Parroquia Cristo Obreo“. Während Mauersegler durchs Bild fliegen und auf der staubigen Landstraße Mopeds vorbeiknattern, fängt die Kamera die Strukturen fallender Würfel und die mit farbigem Glas versetzten wellenförmigen Außenwände Bild um Bild ein.
Der Film „Dieste (Uruguay)“ verfolgt die kühn geschwungene Formsprache eines Ausnahme-Architekten, dessen Gebäude sowohl ein Teil des Alltags als auch eines der Landschaft des Landes geworden sind – beides aber auch zu verändern suchten.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!