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Als die Kinder von Marx die Kinder von Sandino grüßten

Vor 40 Jahren reiste unser Autor als Teil der ersten Arbeitsbrigade aus Westdeutschland nach Nicaragua. Mit anderen unterstützte er die Revolution, zum Beispiel bei der Kaffeeernte. Über die Bedeutung und die Mühen einer besonderen Art von Solidarität

Eine Schweizer Arbeitsbrigade in Nicaragua im Februar 1984 Foto: Fo­to: Olivia Heussler/Ullstein

Von Reimar Paul

Sie waren unsere Helden. Im Juli 1979 marschierten die Kämpfer und Kämpferinnen der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN in Nicaragua nach dem jahrelangen Krieg gegen die Nationalgarde des Diktators Anastasio Somoza unter dem Jubel der Massen in Managua ein. Sie proklamierten Blockfreiheit und eine gemischte Wirtschaft, sagten Armut und Analphabetismus den Kampf an.

Gleichzeitig wurde der militärische Aufstand der von den USA unterstützten sogenannten Contras immer heftiger. Vor diesem Hintergrund rief die sandinistische Regierung unter dem Ex-Guerillero Daniel Ortega im November 1983 dazu auf, das Land durch die Entsendung internationaler Arbeitsbrigaden zu unterstützen. Aus der Bundesrepublik meldeten sich spontan mehr als 1.000 Interessierte. Ein Treffen von Unterstützergruppen legte fest, dass 145 Leute die erste Brigade bilden und bei der Kaffeeernte helfen sollten.

Heute sind die Brigaden so gut wie vergessen. Aber damals war diese Form der praktischen Solidarität vor allem in Deutschland ein Riesending, nicht nur unter radikalen Linken. Aus Göttingen fuhren wir zu dritt. Keiner von uns konnte ahnen, dass Nicaragua Jahrzehnte später wieder zu einer Diktatur verkommen würde – unter dem Diktator Daniel Ortega.

Aber wie war das damals noch mal genau? Am 19. Dezember 1983, dem Vortag der Abreise, kam die Brigade in Bonn zusammen. Eine halbe Nacht lang stritten wir erbittert in einer Kneipe namens Harmonie, wie unsere Brigade heißen sollte. Die Autonomen Linken waren für „Berlin 11.6.“ oder „Krefeld 25.6.“ – an diesen Orten und Daten war es bei Anti-US-Demonstrationen zu heftigen Straßenschlachten gekommen. Die Leute aus Nicaragua-Komitees plädierten für „Grenada libre“, „Salvador Allende“ oder „Cemal Altun“ – Altun war ein türkischer Flüchtling, der sich aus Angst vor seiner Abschiebung in Berlin aus dem Fenster gestürzt hatte.

Am Ende einigten wir uns auf „Todos Juntos Venceremos“ – „Gemeinsam werden wir siegen“. Niemand fand den Namen gut, aber ohne Namen losfliegen ging nicht.

Doch jetzt kam es zu einem echten Problem: Keine der angefragten Fluglinien wollte die „Chaoten“ nach Nicaragua transportieren. Nur die „Cubana“, die kubanische Airline. Allerdings verweigerte die Bundesregierung eine Starterlaubnis für westdeutsche Flughäfen in das revolutionäre Land, so dass das Flugzeug von Luxemburg aus startete. Am 21. Dezember um neun Uhr morgens landete die Brigade Todos Juntos Venceremos schließlich in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua. Unten an der Gangway wartete Ernesto Cardenal, der Dichter und katholische Priester, Kulturminister der Revolutionsregierung. Noch im Flugzeug hatten wir ein Transparent fertig gemalt, das wir nun ausrollten: „Los Hijos de Marx saludan a los Hijos de Sandino“ stand da drauf, „Die Kinder von Marx grüßen die Kinder von Sandino“. Cardenal begrüßte uns alle mit Handschlag.

Am nächsten Tag wurde die Brigade aufgeteilt, offene Lastwagen brachten die einzelnen Gruppen zu verschiedenen Fincas im Norden Nicaraguas. Eng aneinander gepresst saßen wir auf der Ladefläche, jemand reichte eine Barricada herum, die Tageszeitung der FSLN, auf der Titelseite Bilder von unserer Ankunft. An einem Militärposten begrüßten sandinistische Soldaten die Lkw-Karawane mit Schüssen und Feuerwerk.

Zusammen mit 40 weiteren Bri­ga­dis­t:in­nen landeten wir auf der Kaffeeplantage Oro Verde, einem staatlichen Betrieb an der Grenze zu Honduras. Ein junger Sandinist bahnte uns mit einer Machete den Weg zu den Büschen, bevor wir unbeholfen die ersten reifen Kaffeekirschen pflücken konnten. Geschlafen wurde in einem Speicher für Mais und Kaffeebohnen. Und Ratten.

An Heiligabend gab es Reis und Bohnen, Kartoffeln, ein zähes Stück Fleisch und Rum und wir lernten die Hymne der FSLN und das Weihnachtslied „Navidad en Libertad“, „Weihnachten in Freiheit“ zu singen.

Eine Woche später kamen wir auf die Finca La Laguna. Noch im Dunkeln sammelten wir uns morgens auf dem Hof und marschierten, gemeinsam mit nicaraguanischen Frauen und Kindern aus der Umgebung, in die Kaffeefelder. Später kam Vorarbeiter Andrés angeritten, in den Satteltaschen Tortillas, Reis und Bohnen fürs Mittagessen. Wir diskutierten, ob unsere Arbeit hier kontraproduktiv ist. Also, ob das, was wir verzehren, das revolutionäre Nicaragua volkswirtschaftlich unter dem Strich nicht mehr belastet, als ihm die paar von uns gepflückten Säcke Kaffee einbringen. Wir einigten uns auf folgendes: Unsere Arbeit hier hat symbolischen und politischen Wert, keinen ökonomischen.

Statt Kaffee zu pflücken, pflanzten wir denn auch öfter Kartoffeln auf kargen Äckern oder besprühten die schon aus der Erde sprießenden Büschel mit Pflanzenschutzmitteln. Das Zeug war giftig. Sollten wir das mal mit den Nicaraguanern besprechen? Auf keinen Fall! Die Arbeitsbrigaden waren doch nicht gekommen, um den Leuten hier Lehren in ökologischem Landbau zu erteilen.

Es regnete ununterbrochen, der Hof verschlammte, die Stimmung war mies. Einige von uns kränkelten. Andere schrieben Tagebücher oder Briefe, statt zur Arbeit zu gehen. Wieder andere mussten unbedingt in die Stadt, um ihre Schuhe neu besohlen oder putzen zu lassen. An manchen Tagen trat morgens nur die Hälfte der Brigade an.

Bei den abendlichen Brigade-Plena ging es immer wieder um die Arbeitsmoral. Wir einigten uns darauf, dass ein Fernbleiben von der Arbeit nur in begründeten und vom Plenum zu billigenden Ausnahmefällen zulässig sei. Dazu aßen wir die letzten Riegel harter Schokolade aus Deutschland oder süßes Weißbrot, das ein alter Mann ab und zu auf dem Hof verkaufte.

In einer Nacht fielen fünf, sechs Schüsse. Dann hämmerte jemand draußen auf den eisernen Gong. „Jetzt kommen die Contras“, dachten wir. Am nächsten Morgen erzählten uns die Soldaten der FSLN Gruselgeschichten: „500 Contras haben angegriffen“, sagte einer. Und ein anderer: „Ein großer Löwe war auf dem Hof.“ Später erfuhren wir, dass nur einer der Militärs nervös geworden war, weil er meinte, dunkle Gestalten gesehen zu haben.

Der 19. Februar ist der 50. Todestag des historischen Guerilla­führers Augusto César Sandino. An diesem Tag sollte auch das politisch-kulturelle Abschlussprogramm beginnen, das für die Brigade in Managua organisiert worden war. Wir diskutierten, ob es okay sei, schon eine Woche früher in die Hauptstadt zu reisen, um auf eigene Faust noch ein wenig das Land zu erkunden und ein Gesamtbild von Nicaragua zu erhalten. Oder ob es besser wäre, weiter als Arbeitsbrigade den revolutionären Alltag mit seinen Mühen auf dem Hof noch besser kennenzulernen. Das Ganze endete damit, dass einige ihren Austritt aus der Brigade erklärten.

Wir einigten uns darauf, dass unsere Arbeit symbolischen und politischen Wert hat

Ein ARD-Team, das unterwegs für den „Weltspiegel“ war, hatte in Matagalpa eine andere Gruppe der Brigade Todos Juntos Venceremos besucht. Die Fernsehleute schlichen mit Mikrofonen und Kameras durch die Kaffeebüsche, um bewaffnete Arbeitsbrigadisten aufzuspüren. Die Gruppe in Matagalpa hatte den Beschluss gefasst, sich an den Vigilancias, den Nachtwachen, zu beteiligen – unbewaffnet. Nun sahen einige in unserer Gruppe schon eine gnadenlose Hetzkampagne der westdeutschen Medien auf uns harmlose Kaffeepflücker zurollen. Hatte nicht auch der eine oder die andere von uns beim Plausch mit den Soldaten schon mal ein Gewehr berührt? Nicht auszudenken, wenn Fotos davon auf verschlungenen Wegen in die falschen Hände gerieten.

Zu unserem Abschiedsfest kamen hunderte Leute aus den umliegenden Dörfern. Ein Rind wurde geschlachtet, und es wurde bis in den frühen Morgen getanzt und gefeiert. B. aus Schleswig-Holstein ließ sich mit Baskenmütze und Kalaschnikow fotografieren. Zu Hause wollte er sich von dem Bild ein Plakat mit dem Schriftzug „Gewaltfreie Aktion Pinneberg“ machen lassen.

Zu einigen, die dabei waren, habe ich immer noch Kontakt. Sie sind, wie ich, traurig und erschüttert über die Situation in Nicaragua. Viele unserer ehemaligen „Helden“, sofern sie nicht zu Ortegas Günstlingen zählen, sind tot, verhaftet oder im Exil.

Die Wochen und Monate beim Kaffeepflücken oder Brunnenbohren bereuen die, mit denen ich spreche, dennoch nicht. Die Brigaden damals waren sinnvoll und wichtig, sagen sie. Für die Revolution in Nicaragua, von der wir geträumt und an die wir geglaubt haben. Und für uns selbst.

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