Arbeit an der Ostsee: Das Fischersterben
Früher lebten in Barth viele vom Fischen in der Ostsee, heute sind es nur noch zwei. André Grählert und David Graf aber geben nicht auf.
I n der Morgendämmerung sticht David Graf mit seinem U-Boot in See. So nennt er seinen kleinen Kutter, mit dem er morgens um halb sechs rausfährt auf das tiefblaue Wasser des Bodstedter Boddens bei Barth im Landkreis Vorpommern-Rügen. Dichter Hochnebel hängt über dem Meer, kühler Wind weht dem Fischer ins Gesicht. Eine orangene Latzhose und Regenjacke schützen ihn vor der feuchten Luft. Fünf Minuten nach dem Start schaltet er den Motor aus und hält an einer Boje mit roter Fahne. Stille. Nur weit in der Ferne kreischen schwarze Kormorane. Graf geht zum Bug des Schiffes, beugt sich nach vorne und zieht ein Fangnetz aus dem Wasser. Zwei Handgriffe später hat er eine Plötze in der Hand und wirft sie zurück ins Meer. Der Fisch hat Glück gehabt. Graf ist auf Zanderjagd.
Der 30-Jährige darf nur bestimmte Fische erbeuten. Fangquoten regeln, wie viele Kilogramm er von welcher Fischart dem Meer entwenden darf. Die Quoten sollen gefährdete Bestände schützen. Unter Fischern sind sie umstritten, da sie viel Papierarbeit mit sich bringen und schon einige Fischereifirmen in den finanziellen Ruin getrieben haben. Während Graf 2014 18,5 Tonnen Dorsch pro Jahr fangen durfte, sind es heute nur noch 330 Kilogramm. Jeden Fang muss er detailliert protokollieren, weil die Fischereiaufsicht streng ist und fast täglich kontrolliert.
Wie rechnet sich das noch? Und was treibt die Fischer an, ihrem Beruf treu zu bleiben?
Der heutige Zanderfang ist Graf genehmigt. Nach anderthalb Stunden auf der Ostsee hat er eine Kiste mit den Fischen gefüllt, die ihren algigen Geruch entfalten. Die Sonne sticht nun durch die Wolken und ein Seeadler kreist über dem Boot. Graf steuert auf sein viertes und letztes Netz zu. Er fischt passiv. Das bedeutet, dass seine zwei Meter tiefen und 250 Meter langen Stellnetze wie ein Maschendrahtzaun unter der Wasseroberfläche schweben. Die Netze berühren dabei den Meeresboden nicht.
Anstrengende Arbeit
Das ist umweltschonend, aber auch anstrengend. Mit reiner Muskelkraft hebt Graf jedes kleine Stück Netz aus dem Wasser, hangelt sich an ihm entlang und sucht es nach Fischen ab. Meter für Meter. Außer Atem sagte er: „Das Fitnessstudio kann ich mir sparen.“
Graf setzt sich auf einen Hocker vor die Zanderkiste, nimmt einen der Fische in die Hand und schlägt ihm mit einem Holzkeil auf den Kopf. „Einen auf den Dölz, und dann ist Feierabend“, ruft er, bevor er den Fisch mit einem Spezialmesser entschuppt. Der Fischgeruch an den Händen nach der Arbeit plage ihn, sagt er. Die nassen Füße und der kalte Wind auch. Trotzdem wolle er nichts dagegen eintauschen, jeden Morgen allein mit den Möwen und Fischen in den Tag zu starten. Fünf Mal in der Woche, auch im Winter bei Minusgraden. „Die Fischerei ist für mich, wie verliebt zu sein. Sie ist einfach da und fühlt sich richtig an“, sagt er. „Ein Lebensgefühl, Freiheit.“
Kurz nach 7.30 Uhr knattert Graf mit seinem Kutter zum Barther Hafen. In wenigen Minuten öffnet dort der Fischladen mit kleinem Imbiss, den Grafs Chef André Grählert betreibt. Grählert hat kurz zuvor mit einem weiteren Boot angelegt, nun kniet er gebeugt über einem großen Netz voller Heringe. An seinen blauen Plastikhandschuhen und auf dem Schirm seines Basecaps kleben die silbrig schimmernden Schuppen seines Fangs.
Die Heimat der beiden Fischer nennt sich „Vinetastadt“. Laut einer Sage ist Vineta, eine reiche Handelsmetropole, vor der Barther Küste bei einer Sturmflut im Meer versunken. Nur alle hundert Jahre steige die Stadt aus Gold aus dem Schlamm des Boddens empor, wenn ein Sonntagskind an einem Ostermorgen aufs Meer blickt. Das Atlantis des Nordens.
Graf und Grählert glauben nicht an diese Geschichte, ihr Gold fischen sie jeden Tag aus dem Meer. „Nur hat es die Farbe Silber“, sagt Graf, während er eine 20 Kilogramm schwere Kiste voller Heringe auf einen Filetier-Tisch hievt. Für ihn ist der Fischfang so aufregend „wie Lotto spielen“: Jeden Tag ist etwas anderes im Netz, und manchmal auch fast gar nichts – so wie am Vortag.
Das große Boot bleibt im Hafen
Grählerts größtes Boot, ein blauer Kutter, ankert die meiste Zeit nur am Hafen. Es lohne sich nicht, mit ihm rauszufahren, sagt er. Zu wenig Fische, zu wenig Quote. Die heutige Ausbeute nennt er „Kleinkram“. Vor zehn Jahren stapelte er die orange-grünen Fischkistentürme auf der Pier noch deutlich höher. Das Kilogramm Hering verkauft er für 2,80 Euro, vor zehn Jahren verlangte er 2 Euro, und allein von den Fischen kann er nicht leben. Nur durch den eigenen Vertrieb und den Imbiss komme er über die Runden.
Er sagt: „Wir sind keine Fischer mehr, wir sind Lebenskünstler.“ Fast alle von Grählerts Kollegen haben ein zweites Standbein. Manche betreiben Ferienwohnungen oder Restaurants, andere helfen bei einer Werft aus. Der Job strenge ihn deshalb nicht nur körperlich sehr an, sondern auch mental. Ob kleine Ostsee-Fischereibetriebe wie seiner in 20 Jahren noch bestehen können, weiß er nicht. Um neun Uhr schaut ein befreundeter Fischer bei ihm vorbei, kauft für 15 Euro Heringe, nimmt seine Kiste in die Hand und ruft Grählert zu: „Du hast ja wenigstens noch was!“
Vor 50 Jahren war Barth noch eine Fischerstadt. Die drei Heringe im Stadtwappen und die Fischersprüche am Marktbrunnen aus DDR-Zeiten erinnern an diese Zeit. In den achtziger Jahren lebten rund 120 Fischer hier an der Darßer Boddenkette, die sich von Dierhagen 60 Kilometer über Barth bis nach Barhöft erstreckt. Heute sind es nur noch 20. In ihrer Kleinstadt sind Grählert und Graf die Letzten ihrer Art. Die letzten Barther Boddenfischer.
Gerade deshalb ist es für die beiden wichtig, die Fischereitradition an der Ostsee aufrechtzuerhalten. Sie arbeiten im Team. Grählert friemelt die Heringe aus dem Netz heraus und legt sie in eine Kiste. Wenn sie voll ist, reicht er sie seinem Kollegen am Ufer. Mit einem scharfen Messer ritzt dann Graf den Bauch eines Herings auf, entfernt die Innereien, säubert die Blutrinne, Kopf ab, fertig. Dann schmeißt er den geschlachteten Fisch in eine weitere Kiste. Flatsch, Akkordarbeit im Sekundentakt.
Fischer seit Generationen
Grählert ist Fischer in fünfter Generation. Der 47-Jährige fährt jeden Tag zu seinen Netzen. Sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Seit über dreißig Jahren, sagt er, stehe er um 3 Uhr auf, Urlaub macht er fast nie. Denn er hat Pflichten: Einmal täglich muss er seine Stellnetze kontrollieren, die dauerhaft einige Hundert Meter vor der Küste Fische in die Falle locken. Eine Vertretung hat Grählert nicht. Das letzte Mal nahm er sich vor vier Jahren frei, um seinen Bruder zu besuchen. Drei Tage.
Solche Ausnahmen sind selten, denn er fühlt sich wohl in dem kleinen Ort am Meer und mag seinen Job. Er habe zudem immer den Drang, auf seinem Boot und an der frischen Luft zu sein. Er sagt: „Wir Norddeutschen sind gut drauf, weil wir die ganze Zeit am Meer rumdaddeln.“
Schon als Kind fuhr er auf dem Kutter von seinem Vater Horst mit, bei dem er später seine Ausbildung machte. Horst Grählert ist seit zwei Jahren im Ruhestand, aber besucht seinen Sohn jeden Tag an der Fischereipier. So auch an diesem Vormittag: Er lehnt sich an ein Geländer und erzählt von der DDR-Zeit, in der die Fischbestände der Ostsee noch größer und die Fangquoten lockerer waren. Er sagt: „Vor dreißig Jahren haben wir mal gesehen, wie die Heringe aus dem Hafenbecken gesprungen sind.“ Er nennt sie „Brotfische“, weil früher noch viele Fischereibetriebe von ihnen lebten. In der Buchreihe „Lande Barth: Barther Geschichte(n)“ erinnert ein Text an die goldenen Zeiten der Fischerfamilie Grählert. Dass Horst Grählert in einem Frühjahr mit seinem Zeesboot, einem schmalen Segelboot aus Holz, mehrere Wochen am Stück täglich zwei Tonnen Hering fischte. Diese Menge dürfen Grählert und Graf maximal fangen – in einem gesamten Jahr. Vor zehn Jahren war ihnen noch die 50-fache Menge erlaubt.
Nicht nur die Fangquoten gehen Grählert „gewaltig an die Gräten“. Seine Arbeit, sagt er, werde auch erschwert durch Windräder, die Lärm erzeugen und Fische vertreiben, und Hobbyangler, die Netze beschädigen. Und dann gibt es noch die Kormorane, die den Fischnachwuchs fressen.
Am meisten stört ihn aber die industrielle Fischerei, bei der große Boote mit Schleppnetzen stundenlang das Meer durchpflügen. Dabei landet viel Beifang im Netz, von dem sich ein großer Teil verletzt und nicht überlebt. „Das nervt mich“, sagt Grählert. „Am Ende ist der Fisch nur noch Matsche.“ Im Vergleich dazu sei sein Betrieb „urig“. Er hole immer nur so viel Fische aus dem Meer, wie er auch verkaufen könne.
Zweihundert Meter von der Pier und den Booten entfernt versteckt sich Grählerts Fischladen hinter einem Hotelgebäude aus Backstein. Früher hieß die Fischerei „Dei lütt Hall“, plattdeutsch für die kleine Fischhalle. Unter dem Namen „Fischer André“ hat sie Anfang März in einer umgebauten Baracke gegenüber neu eröffnet. So nannten die Kinder aus Barth den Ort sowieso schon. An den Wänden des Ladens hängen präparierte Fischköpfe, drei Flachbildschirme präsentieren die Speisekarte.
Ein Treffpunkt mit Fisch
Der Laden ist ein Treffpunkt für Einheimische, eine Attraktion für Touristen und die Haupteinnahmequelle der Fischer. Mit Blick aufs Meer kann man hier Fischbrötchen an den Holztischen im verglasten Imbissraum oder auf der großen Dachterrasse verzehren.
„Hier kommt immer jemand auf einen kleinen Schnack vorbei“, sagt Graf. Nach der Mittagspause springt er mit zwei Kolleginnen hinter die Fischtheke. Sie bieten Barsche, Dorsche, Heringe und viele weitere fangfrische Boddenfische an, die als Filet, als ganzer Fisch oder im Brötchen auf dem Teller landen. In der Küche nebenan setzt Grählert eine Gemüsebrühe auf, um „Aal süß-sauer“ zu garen. Der Fisch lief in den letzten Tagen nicht so gut. Indem Grählert ihn in Aspik einkocht, macht er ihn länger haltbar. Wegschmeißen möchte er nichts. Auf keinen Fall.
Denn er möchte sein Versprechen an sich selbst erfüllen und jedem Einzelnen von ihnen gefischten Fisch auf den Teller bringen. Er sagt: „Wir wollen ja auch noch in zehn bis fünfzehn Jahren fischen können.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe