App für Trauernde nach Todesfall: Helferlein im überlasteten System
Nach dem Tod einer Angehörigen fühlen sich viele Trauernde alleingelassen. Die App „Grievy“ soll helfen. Eine App ersetzt allerdings keine Therapie.
Eine kleine winkende Hand ist das Erste, was die Nutzer*innen in der App „Grievy“ sehen. Erwidert man den Gruß, stellt die Trauer-App Fragen: Wen hast du verloren? Was beschäftigt dich gerade am meisten: die Reaktion anderer auf deinen Verlust oder die Herausforderung, nach dieser Erfahrung den Alltag zu meistern? Oder quält dich innere Leere?
Dieses Jahr sind schon Zehntausende Menschen in Deutschland gestorben, sie werden vom Statistischen Bundesamt erhoben, doch die Angehörigen bleiben unsichtbar. So ging es auch Nele Stadtbäumer, als ihr Vater starb. Die 28-Jährige stieß bei ihrer Suche 2019 auf Trauergruppen, doch für junge Leute gab es kaum ein Angebot. Die Gruppen waren zudem meist für verwitwete Menschen. „Das ist eine andere Verlusterfahrung. Viele Trauergruppen starten auch zu einem bestimmten Zeitpunkt geschlossen, damit eine Vertrauensatmosphäre entsteht. Wenn das gerade der Fall war, muss man warten“, sagt sie.
Das Thema Trauer beschäftigt Stadtbäumer nicht nur als Betroffene, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht. Im siebenköpfigen Team der Grievy-App, die sie gemeinsam mit zwei Kollegen gegründet hat, bringt sie als studierte Psychologin Fachwissen mit.
Noch befindet sich die App in der Testphase, in den kommenden Tagen soll sie in den App-Stores verfügbar sein. Sie soll je nach Abomodell zwischen 9 und 15 Euro im Monat kosten. Im Gegensatz zu einer Therapie, die oft mit langen Wartezeiten verbunden ist, soll die App Trauernden jederzeit zugänglich sein. „Wir haben viele junge Mütter unter unseren Testenden, die ihren Partner verloren haben. Sie nutzen die App, wenn die Kinder im Bett sind. Dann ist zwar endlich mal Ruhe, aber auf einmal bricht auch gerade deshalb die Welt zusammen“, sagt Stadtbäumer. Doch können Apps wie Grievy wirklich eine Alternative zur Psychotherapie sein?
Nicht alleinige Lösung
Die Inhalte sind tatsächlich wissenschaftlich fundiert: Die App basiert auf der kognitiven Verhaltenstherapie, der Akzeptanz- und Commitment-Therapie sowie der Traumatherapie. Neben Kursen bietet die App die Möglichkeit, Tagebuch zu schreiben, außerdem einen SOS-Bereich mit Audios zu Atemübungen und Meditationen. Zusätzlich werden Notfallkontakte der Telefonseelsorge, der Krisenchat sowie die Notrufnummer eingeblendet. „Dieser Bereich ist wichtig, wenn die Trauer wieder akut hochkommt oder der Verlust noch nicht lange her ist. Dann geht es ja nicht darum, an der Trauer zu arbeiten, sondern um die Stabilisierung der Person in diesem Moment“, so Stadtbäumer. Sie sieht in der App auch eine Chance, das strapazierte Therapiesystem präventiv zu entlasten, indem häufigen Folgeerkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen vorgebeugt wird.
Für Psychotherapieforscher Lasse Sander kann eine App allein aber nicht die Lösung sein. Er sagt: „Wir brauchen eine bessere und klügere Finanzierung für psychische Gesundheit.“ Sander arbeitet schwerpunktmäßig zum Thema E-Mental-Health, genauer gesagt zu digitalen Gesundheitsanwendungen (DIGA) für psychische Gesundheit. Bekommen diese ein Zertifikat vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArm), können sie verschrieben und von der Krankenkasse bezahlt werden. Sie gelten als begleitete Interventionen.
Persönliche Betreuung angestrebt
Wenn App-basierte Angebote für psychische Störungen unbegleitet sind, ordnet Sander sie kritisch ein: „Wir wissen aus der Forschung, dass digitale Interventionen als reine Selbsthilfe deutlich weniger wirksam sind. Es braucht zumindest eine kleine menschliche Komponente.“ Für ihn liegt die Chance von DIGA darin, dass ein*e Psychotherapeut*in in Zukunft mithilfe digitaler Zusätze in der gleichen Zeit mehr Menschen behandelt, nicht in reiner Selbsttherapie. „In einer App klärt niemand etwaig bestehende ernsthafte psychische Probleme ab. Wäre die Person besser irgendwo anders aufgehoben oder braucht es zusätzliche Maßnahmen?“, sagt Sander.
Und das stimmt. Wer unbegleitet Apps für die psychische Gesundheit nutzt, ist selbst dafür verantwortlich, wann und ob die durch die Konfrontation mit der Trauer ausgelösten Gefühle zu viel werden. Doch auch in einem System mit durchschnittlich 40 Tagen Wartezeit auf ein Erstgespräch und 142 Tagen bis zum Therapieplatz werden Leute alleingelassen. Stadtbäumer ist sich der Leerstelle bewusst. Sie sagt, man strebe künftig auch eine persönliche Betreuung der Trauernden in der App an. Bislang gibt es diese noch nicht.
„Zu wenig Geld“
Potenzial sieht Sander beim Einsatz digitaler Angebote in jedem Fall. In Workshops bildet er Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen aus, um digitale Interventionen in die Behandlung zu integrieren. „Die Kolleg*innen haben einen erheblichen Aufwand damit, sich mit DIGA vertraut zu machen. Dafür gibt es viel zu wenig Geld“, sagt er. Ohne adäquaten finanziellen Ausgleich für Behandler*innen sieht der Psychotherapeut kein allzu schnelles Vorankommen in der Digitalisierung der psychotherapeutischen Versorgung.
Auch datenschutzrechtliche Bedenken bremsen laut Sander aus. „Datenschutz ist wichtig, aber sollte 100-prozentige Datensicherheit immer das oberste Kriterium sein? Da geht es dann doch eher um die kriminelle Aneignung der Daten. Wenn man sich ansieht, was die Menschen über Social Media und Smartphones häufig unwissend alltäglich für kommerzielle Zwecke preisgeben, dann kann das nicht das letzte Argument sein, die Möglichkeit der Innovation zurückzuhalten.“ Registerdaten, wie sie in anderen Ländern zur Verfügung stünden, böten enormes Potenzial für die aktuelle Forschung. Stadtbäumer sieht das ähnlich. Daher erhebe Grievy diagnostische Daten von Trauernden, beispielsweise, wen sie verloren haben und wann, um die Kurse zu personalisieren: „Wir erheben keine personenbezogenen Daten. Wenn man eine Antwort eintippt oder einen Eintrag ins Tagebuch macht, sehen wir das nicht. Das ist privat und bleibt lokal auf dem Telefon der Nutzenden.“ Auch Apps mit DIGA-Zertifikat müssen Datenschutzstandards erfüllen.
Letztlich geht es um moderne Wege für psychische Gesundheit. Laut Sander habe ein großer Teil der Bevölkerung irgendwann Bedarf an einer Psychotherapie, nachgefragt würde sie nur von einem Bruchteil. Apps wie Grievy ersetzen zwar nicht die klassische Psychotherapie. Sie können aber niederschwellig dafür sorgen, dass man sich mehr Gedanken um die eigene psychische Gesundheit macht. Und führt der Weg zunächst über eine App und nicht über einen Antrag auf Therapie, spricht das dafür, dass sich an den langen Wartezeiten und dem Papierkram des Systems endlich etwas ändern muss.
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