Anzeige gegen Gedenkstättenleiter: Vorwurf der „üblen Nachrede“

Die Staatsanwaltschaft Göttingen hat gegen den Leiter der Gedenkstätte Buchenwald ermittelt. Grund sei dessen Buch über Verbrechen der Wehrmacht.

Jens-Christian Wagner, Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Foto: Jacob Schröter/imago

Leipzig | taz | Jens-Christian Wagner ist seit Oktober dieses Jahres Stiftungsleiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Als Historiker forscht er zu Wehrmachtsverbrechen. Man würde meinen, Wagner sei durch seine Tätigkeit nichts fremd. Die Post, die Wagner am 9. November erhielt, überraschte ihn dennoch: Die Staatsanwaltschaft Göttingen setzt ihn davon in Kenntnis, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen §185 des Strafgesetzbuches, also wegen „übler Nachrede“, laufe. Das Schreiben liegt der taz vor.

Ihm werde zur Last gelegt, in dem von ihm herausgegebenen wissenschaftlichen Begleitband „Aufrüstung, Krieg und Verbrechen“ zur gleichnamigen Ausstellung der Gedenkstätte Bergen-Belsen, die 2019 eröffnet wurde, „ehrenrührige Tatsachen zum Nachteil der Wehrmachtsoldaten behauptet zu haben“. Wer die Anzeige gestellt hat, ist unklar. Wagners Anwalt beantragte Akteneinsicht, bislang ohne Ergebnis.

Bei Wagners Buch handelt es sich um eine Dokumentation von Wehrmachtsverbrechen. „Diese“, sagt Wagner „sind in der Tat ‚ehrenrührig‘ – so wie jedes Verbrechen. Und der Holocaust ist es allemal.“ Nichts davon sei jedoch unwahr. Woher kommen also Bestrebungen, gegen ein wissenschaftlich genaues und historisch korrektes Werk vorzugehen? Der Mythos einer sauberen Wehrmacht ist mitnichten neu und doch hält er sich hartnäckig. „Ein wesentlicher Grund ist sicherlich, dass es in so gut wie jeder deutschen Familie Soldaten der Wehrmacht gab“, sagt Wagner. Eine Abgrenzung zu einer überschaubaren Gruppe wie der SS sei hier weniger leicht.

Als konkreten Anlass für die Anzeige vermutet Wagner eine Debatte, die derzeit im Bergener Stadtrat geführt wird. Dabei geht es um eine Erklärung zum Weltfriedenstag 2020, die er gemeinsam mit der parteilosen Bergener Bürgermeisterin Claudia Dettmer-Müller verfasst hatte. In dieser heißt es: „Während des Zweiten Weltkrieges haben SS und Wehrmacht vor unserer Haustür unvorstellbare Verbrechen begangen.“ Im Kriegsgefangenenlager Bergen-Belsen starben zwischen 1940 und 1945 rund 20.000 überwiegend sowjetische Kriegsgefangene im Gewahrsam der Wehrmacht.

Diskursverschiebung nach rechts

CDU, FDP und Teile der SPD stimmten Wagners Erklärung nicht zu. Die AfD veröffentlichte zuvor eine eigene Erklärung. Darin monierte sie, dass man SS und Wehrmacht historisch nicht einen Topf werfen könne, und regte stattdessen an, von „Teilen der Wehrmacht“ und einer Hauptverantwortlichkeit der NSDAP zu sprechen.

Wagner zeigt sich überrascht über die Abwehrreflexe im Zusammenhang mit den NS-Verbrechen aus jüngster Zeit. Er vermutet, dass die Anzeige auch mit dem veränderten geschichtspolitischen Klima zusammenhänge. Es gebe Indizien für eine Diskursverschiebung nach rechts. Dafür macht Wagner unter anderem die AfD verantwortlich, die die Erinnerungskultur als Grundkonsens der Berliner Republik offen angreife.

Ein weiterer Grund sei der Abschied von Opfern der NS-Verbrechen. Mit ihnen schwinde das geschichtspolitische Korrektiv der Überlebenden, die immer ihre Stimmen erhoben hätten, wenn NS-Verbrechen geleugnet oder verharmlost wurden.

Gegenüber der taz sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Göttingen, dass das Verfahren gegen Wagner eingestellt worden sei, da seitens des Anzeigeerstatters der notwendige Strafantrag fehle. Dieser Antrag könne nur durch denjenigen gestellt werden, der durch die Tat auch selbst verletzt sei. Wagner erfuhr von der Einstellung des Verfahrens am Dienstag durch Journalist:innen. Bis zu diesem Tag hatte er kein entsprechendes Schreiben der Staatsanwaltschaft erhalten.

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