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Anuk Arudpragasams Roman „Nach Norden“Wonach die Figuren suchen

Ein Bürgerkrieg, der noch nach Generationen nachwirkt: Der Roman „Nach Norden“ des sri-lankischen Autors Anuk Arudpragasams entwickelt einen Sog.

Anuk Arudpragasam erzählt von den Verheerungen des Krieges, im Bild Soldaten in Sri Lanka 1998 Foto: Gemunu Amarasinghe/ap

Auf den letzten Seiten liefert er noch einmal einen dieser suchenden philosophischen Exkurse, der wie alle davor gleichzeitig sehr schwierig und sehr leichtfüßig daherkommt. Es geht um ein Thema, das schon öfter dran war in Anuk Arudpragasams neuem Roman „Nach Norden“, aber durch sein exponiertes Timing lässt es noch einmal zurückblättern.

Krishan, der Erzähler, ist irgendwo im ländlichen Sri Lanka auf der Beerdigung der Haushaltshilfe seiner Großmutter gelandet. Sie hat sich das Leben genommen, weil sie nicht mehr damit klarkam, dass ihre beiden Söhne im Bürgerkrieg gestorben waren. Anstatt aber noch einmal vom Kampf der tamilischen Separatisten um Unabhängigkeit vom singhalesisch dominierten Staat 1984 bis 2009 zu berichten – oder auch von den Wunden, die dieses Land bis heute prägen –, schlägt der 1988 geborene Autor Anuk Arudpragasam einen interessanteren Weg ein.

Krishan geht vom Scheiterhaufen weg, in dem die Leiche Ranis verbrannt wird, und in dem Maße, wie das Feuer leiser wird, macht er zunehmend seinen Frieden mit ihrem Tod. Es folgt eine kurze Reflexion über den menschlichen Blick, „den wir jederzeit in die Ferne richten können“, und über das Gehör, das dagegen „mit der physischen Gegenwart verbunden“ sei.

Und schließlich gelangt Arudpragasam zum Kernthema seines Buches, zum Unterschied zwischen Nähe und Distanz, die aufgelöst wird in den Unterschied zwischen Verlangen und Sehnsucht.

Das Buch

Anuk Arudpragasam: „Nach Norden“. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin, Berlin 2022. 320 Seiten, 25 Euro

Aus Schuldgefühl zur NGO

In behüteten Verhältnissen in Sri Lankas Hauptstadt Colombo ist Krishan aufgewachsen, er hat, wie er glaubt, einen unberührten Blick auf den Krieg im Norden, der lang vor seiner Zeit begonnen hat, lebt lange Jahre in Delhi. Doch dann werden die Schuldgefühle schwerer, immer zwanghafter seine Recherchen zum Krieg. Irgendwann beschließt er, im Kriegsgebiet bei einer NGO zu arbeiten.

Wenn er mit toxischer Männlichkeit konfrontiert wird, wundert sich dieser junge Held sehr

Sehr beiläufig erwähnt er irgendwann, dass sein Vater bei einem Anschlag gestorben ist – und nur ganz sacht und mit Abstand zu Krishan, der schwer zu gewinnen ist, schält sich heraus, dass er keinen Zugang zu diesem entscheidenden Kapitel seines Lebens zu finden scheint.

Es hängt eine Art Vorhang zwischen Krishans Verlust und seinem Leben, trocken gesprochen würde man sagen, er hat genauso eine posttraumatische Belastungsstörung wie die Haushälterin, die am Ende bestattet wird, nur dass ihm dies irgendwie nicht schwer genug zu wiegen scheint oder, und das bleibt auf erhellende Weise unklar, dass es noch nicht zu ihm durchgedrungen ist. Er kann nur diffuse Sehnsucht danach haben, sich zu engagieren und zu verstehen. Oder ist da noch eine Sehnsucht nach etwas anderem?

Unfassbar anstrengendes Buch

Anuk Arudpragasam hat ein unfassbar anstrengendes Buch geschrieben, einen über 300 Seiten langen inneren Monolog ohne Dia­lo­ge, ohne großartigen Plot und voller seitenlanger Sätze im superhohen Ton, die manchmal fast zu nerven beginnen – kleine Gesten des Respekts für die allseits bekannten avantgardistischen Experimente einer Virginia Woolf oder eines James Joyce.

Natürlich ist dieses Buch außerdem hochpolitisch: Es handelt von Verheerungen, wie wir sie gerade wieder massiv vor die Haustür gespült bekommen – es führt auch noch den größten Ver­drän­ge­r*in­nen der eigenen Geschichte klar vor Augen, dass sich ein Krieg über Generationen in Gesellschaften brennt.

Und trotzdem ist dieses Buch auch weit davon entfernt, nur schwere Arbeit zu sein, es entwickelt sogar einen ganz seltsamen Sog – vielleicht kann man nicht ­anders als sorgfältig mit Sprache sein, wenn man wie dieser Autor auf ­Tamil und auf Englisch schreibt.

Da sind zum einen wunderschöne Nacherzählungen tamilischer Legenden und alter Sanskritlyrik; sie bringen eine eigene Ebene in diesen Roman. Zum anderen und vor allem ist da aber auch ein sanfter, junger Mann, der sehr darauf bedacht ist, sich nicht so wichtig zu nehmen, der sich sehr darüber wundert, wenn er mit toxischer Männlichkeit in Berührung kommt, der sich in Delhi in die queere Aktivistin Anjum verliebt.

Selbstmordattentäterinnen der Tamil Tigers

Anjum lässt Krishan nur an sich heran, weil sie genau weiß, dass sie ihn bald wieder für ihre politischen Pläne wird fallen lassen. Krishans Faszination für ihren knallharten Narzissmus geht so weit, dass er eine Obsession für zwei offensichtlich lesbische Selbstmordattentäterinnen der Tamil Tigers entwickelt, die er immer wieder in einem Dokumentarfilm studiert. Und wieder ist ungewiss, ob Krishan das alles nicht spürt oder ob er es nicht spüren möchte.

In einem Interview mit dem britischen Literatur- und Kunstmagazin White Review hat Anuk Arudpragasam seiner Bewunderung für einen anderen Lieblingsautor Ausdruck verliehen, der viel zitiert, aber noch immer viel zu wenig gelesen wird: den deutschen Schriftsteller W. G. Sebald, dem neuerdings kulturelle Aneignung jüdischen Leids vorgeworfen wird.

Das wird Anuk Arudpragasam wohl wissen, wenn er sagt, dass die stets wandernden Figuren von Sebald nur „langsam sehen, dass das, wonach sie suchen, ohne es genau zu wissen, eine Welt ist, die vor dem Holocaust existierte, eine Gemeinschaft und eine Lebenswelt, die ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit oder Erfüllung gegeben haben könnte“.

Die Sehnsucht, die Krishan umtreibt, ist nicht nur die nach Engagement und Verständnis, sondern nach einem Leben vor der Zerstörung – auch wenn er nur ahnen kann, wie kaputt er eigentlich ist. „Nach Norden“ ist nicht nur ein Roman über den Krieg und seine Folgen, sondern eine Ebene darunter auch über die Frage, wie betroffen man sein muss, wenn man über ihn schreiben möchte.

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