Antisemitismusbeauftragter über Proteste: „Wir haben eine extreme Eskalation“
Judenhass ist ein breites gesellschaftliches Problem, sagt Samuel Salzborn. Das sei historisch begründet. Weniger als ein Prozent waren zur NS-Zeit oppositionell.
taz: Herr Salzborn, wie sicher können Jüdinnen und Juden zurzeit in Berlin leben?
Samuel Salzborn: Seit dem barbarischen antisemitischen Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober ist die Sicherheitslage für Jüdinnen und Juden und für Israelis in Berlin extrem angespannt. Wir hatten eine Reihe von extrem aggressiven antisemitischen Versammlungslagen und Kundgebungen, Markierungen von Wohnhäusern mit antisemitischen Symbolen, einen versuchten Brandanschlag auf die Synagoge in der Brunnenstraße, zuletzt mehrere Zerstörungen von Chanukka-Leuchtern. Seitdem geht das Ganze auch mehr in die Breite, etwa an den Hochschulen, wo Jüdinnen und Juden angefeindet werden.
Was heißt das im Alltag?
Das wirkt sich massiv auf das subjektive Sicherheitsgefühl aus, weil man nie genau weiß, an welchem Ort in Berlin was passieren kann. Viele leben mit der großen, nachvollziehbaren und berechtigten Furcht, dass sie spontan angegriffen werden könnten, wenn sie als Jüdinnen und Juden zu erkennen sind, etwa durch eine Kette mit dem Davidstern.
Samuel Salzborn, geboren 1977, hat Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie und Rechtswissenschaft studiert. 2012 erhielt er eine Professur in Göttingen. Seit August 2020 ist er hauptamtlich Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin.
Landeskonzept Das Landeskonzept gegen Antisemitismus sieht Fortbildungen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und pädagogischem Personal vor. Außerdem sollen Beratungsangebote für Schulen und Jugendarbeit ausgebaut werden. Lernorte sollen Schüler*innen über aktuelle und historische Formen von Antisemitismus informieren.
Vorfälle Seit dem 7. Oktober 2023 sind antisemitische Vorfälle in Berlin sprunghaft angestiegen. Zuletzt wurde das Mahnmal am S-Bahnhof Friedrichstraße, das an die Rettung jüdischer Kinder vor den Nazis erinnert, beschmiert. In der Silvesternacht oder an Neujahr wurde es mit der Zeichnung eines Gebäudes mit einem Kreuz und einem Halbmond bemalt. (taz, dpa)
Braucht es mehr Sicherheitsmaßnahmen?
Das Land macht seit dem 7. Oktober bei den Sicherheitsmaßnahmen vor Synagogen und vor jüdischen Einrichtungen sehr, sehr viel. Aber das große Risiko ist der Alltag: Situationen und Orte, in denen man eben keinen vollumfänglichen Schutz herstellen kann, so bitter das ist.
Raten Sie als Antisemitismusbeauftragter jetzt dazu, sich nicht als jüdisch oder israelisch erkennen zu geben?
Es ist nicht an mir, jemandem konkrete Vorschläge fürs Leben zu machen. Aber ich höre von vielen Stellen, dass Menschen solche individuellen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und dass sie in einigen Bezirken – wie etwa Neukölln – noch mal vorsichtiger sind.
Berlin hat seit 2019 ein Landeskonzept zur Weiterentwicklung der Antisemitismusprävention. Wie gut setzt das Land das um?
Im Unterschied zu anderen Bundesländern haben wir in Berlin konkrete Maßnahmen festgelegt und ein ganz großer Teil ist auch umgesetzt. Wir haben uns in vielen Bereichen professionalisiert: Polizei und Generalstaatsanwaltschaft haben jetzt Antisemitismusbeauftragte. Und wir haben einen Leitfaden zur Erfassung antisemitischer Straftaten entwickelt. Der gibt den Kolleginnen und Kollegen auf den Polizeiabschnitten konkrete Hinweise und Handlungsanweisungen.
Warum ist das wichtig?
Wenn wir uns vorstellen, jemand wird körperlich angegriffen mit einem antisemitischen Motiv und die Polizei würde nur die Körperverletzung sehen, dann würde wesentlich verkannt, dass es ohne den Antisemitismus gar keine Körperverletzung geben würde. Außerdem können antisemitische Motive auch strafverschärfend wirken. In Berlin ist es aber auch wichtig, antisemitische Organisationsstrukturen im Blick zu haben.
Inwiefern?
Antisemitische Organisationsstrukturen wie Samidoun waren maßgebliche Treiber der antisemitischen Proteste – ohne dass Berlin als Land da regulieren konnte. Ich wage mal vorsichtig zu sagen: Wenn die Bundesinnenministerin das Verbot früher ausgesprochen hätte, wären die Eskalationen hier nicht so heftig ausgefallen.
Wie das?
An einer antisemitischen Versammlung nehmen nicht spontan und aus dem Nichts mehrere tausend Menschen teil. Das sind organisatorische Strukturen, die das koordinieren, dazu aufrufen, Parolen vorgeben.
An den proisraelischen Demos haben sich ja eher wenig Menschen beteiligt. Zeigt sich darin auch Antisemitismus?
Da würde ich mir natürlich sehr viel mehr Menschen wünschen. Allerdings sind die Demos von sehr breiten Bündnissen getragen: politisch, religiös, gesellschaftlich, ökonomisch, aus dem sozialen Bereich. Es ist also eine breite Grundhaltung gegen Antisemitismus auf einer repräsentativen Ebene da. Und man muss auch sehen, dass es antisemitischen Organisationen andererseits viel leichter fällt, mit ihrer aggressiven Emotionalisierung zu mobilisieren.
Sehen Sie das wirklich als aggressive Emotionalisierung? So unsicher die Quellen auch sind: Wenn wir von mehr als 20.000 getöteten Palästinenser*innen ausgehen, sind Trauer und Wut doch angebracht. Gerade in Berlin, wo viele ja auch familiäre Bezüge haben.
Die Polizei spricht da oft von Mischlagen: Mit organisierten Kaderstrukturen mit einer klar israelfeindlichen antisemitischen Agenda, mit spontan dazukommenden Jugendlichen und zunehmend auch mit Gruppen aus einem links-antiimperialistischen Milieu. Wir haben sicher auch Menschen, die aus eigener Betroffenheit teilnehmen. Aber der Punkt ist: Wer gibt bei so einer Versammlung den Ton an? Was steht auf den Transparenten? Welche Parolen werden gerufen, welche Musik gespielt? Es gab und gibt ja auch Gedenkveranstaltungen ohne antisemitische Parolen. Wenn Teilnehmer*innen sich aber hinter antisemitischen Transparenten versammeln, tragen sie dafür auch Verantwortung. Es läge an ihnen, klar zu widersprechen oder die Versammlung zu verlassen. Das nehme ich bisher kaum wahr.
Wie wichtig finden Sie öffentliche Positionierungen?
In einer repräsentativen Demokratie ist das grundsätzlich wichtig, weil Parteien, Religionsgemeinschaften und Verbände eine Repräsentationsfunktion haben für die Menschen, für die sie sprechen. Ich finde es auch sehr wichtig, dass Personen des öffentlichen Lebens sich einbringen. Schauspieler, Musiker, egal aus welchem Bereich, tragen damit Botschaften in das Milieu, aus dem sie kommen. Und es ist schon etwas gewonnen, wenn Leute dadurch über ihre eigenen Positionen nachdenken.
Gerade von muslimischen Verbänden und von Muslim*innen oder Menschen mit arabischem Hintergrund haben Politik und Gesellschaft Distanzierungen eingefordert. Ist das gerechtfertigt?
Es ist klar, dass nicht alle Musliminnen und Muslime antisemitische Positionen vertreten. Aber auch in dem Milieu ist ja entscheidend, was die repräsentierenden Personen sagen: Wie steuern die, wie wirken die ein? Islamisten fokussieren auf den Judenhass, und wenn aus einem muslimischen Milieu keine Gegenstimmen kommen, bleibt das im Raum hängen. Die Frage ist: Wohin orientieren sich die Menschen, die sich diesem Glauben verbunden fühlen? Da ist jede einzelne muslimische Stimme, die sich eindeutig und klar gegen Antisemitismus und gegen die Hamas positioniert, extrem wichtig.
Wir machen es uns doch etwas zu leicht, wenn wir Antisemitismus als muslimisches Problem betrachten.
Wir haben im Moment eine extreme Situation der antisemitischen Eskalation und sehen, dass Gruppen aus einem islamistischen Kontext, auch aus einem arabischen Kontext, das massiv anheizen. Dazu kommen antiimperialistische Gruppen. Insofern haben wir das Problem dort ganz konkret. Es geht um Volksverhetzung, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung, im Zweifelsfall auch Gewalt. Insofern finde ich das grundsätzlich den richtigen Fokus, in dieser Situation.
Und darüber hinaus? Antijudaismus ist auch Teil des Christentums.
Dass es auch im christlichen Kontext Antisemitismus gibt, ist offensichtlich. Die evangelische Kirche stellt sich dem seit einiger Zeit sehr intensiv. Das ist auch der entscheidende Punkt: Am glaubhaftesten ist der Kampf gegen Antisemitismus immer dann, wenn er sich mit der eigenen Gruppe auseinandersetzt. Und aktuelle Stereotype schließen an diese sehr alten Bilder an.
Trotzdem reden wir sehr viel über den sogenannten importierten Antisemitismus.
Wir wissen mittlerweile, dass weit weniger als ein Prozent der Bevölkerung im Nationalsozialismus irgendwie oppositionell war, Jüdinnen und Juden geholfen hat. Also, die große Masse hat in irgendeiner Weise partizipiert und teilgehabt an den Verbrechen. Wir haben aber immer noch eine nur unzureichende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit auf der Ebene von Familien. Die zeigt sich in massiver Schuldabwehr in allen Teilen der Gesellschaft, auch denen mit Migrationsgeschichte.
Was tun?
Strukturell müsste mehr an den Schulen passieren. Dort reden wir über den Nationalsozialismus, die Vorgeschichte in der Weimarer Republik und die Shoah. Dabei vergessen wir oft Judenhass davor und danach. Antisemitismus fängt nicht erst beim Mord an: Das ist ein Weltbild, eine Einstellung und spielt auch im Alltag eine Rolle. Darauf müssen wir gucken, um hellhörig werden zu können, wenn uns Antisemitismus an anderer Stelle begegnet. Als Querschnittsthema gehört das in alle Fächer.
Und individuell?
In vielen Familien liegen alte Fotoalben, die kann man durchblättern und gucken, was man entdeckt. Man kann auch mit den Verwandten darüber reden, was sie wissen, und so eine Auseinandersetzung in Gang setzen – wohin auch immer das dann konkret führt.
Es gibt viele Jugendliche, deren Familien in der NS-Zeit noch nicht in Deutschland gelebt haben. Wenn die sagen: Mit mir hat das gar nichts zu tun. Was antworten Sie?
Der Nationalsozialismus war ein verbrecherisches Regime, das im Kontext vieler anderer auch faschistischer Regime agiert hat. In den 20er, 30er, 40er Jahren sehen wir eine Reihe von faschistischen Diktaturen mit antisemitischen Elementen in Europa.
Und im arabischen Raum?
Wir sehen in vielen Staaten Regime, die mit dem Nationalsozialismus paktiert haben, etwa der Großmufti von Jerusalem. Es haben muslimische, arabische Divisionen gekämpft – freiwillig. Auch die Muslimbrüder schließen direkt an solche Ideologien an. Wenn jemand behauptet, Antisemitismus und Nationalsozialismus habe mit eigener Familiengeschichte nichts zu tun, ist es oft auch Unwissenheit. Bei einzelnen Familien mag das zutreffen, aber in Bezug auf Gesellschaften ist es in aller Regel falsch. Und auch in der schulischen Präventionsarbeit ist eins unverhandelbar: Es gibt keine Rechtfertigung für Antisemitismus. Das würden Schülerinnen und Schüler in Bezug auf andere Diskriminierungserfahrungen ja vermutlich auch sagen.
Berlin hat eine große palästinensische Community. Ist die Stadt damit ein guter Ort für Austausch?
Austausch und Dialog fordern viele ein. Dabei muss die Grundlage aber ein Konsens gegen Antisemitismus sein. Und das führt oft dazu, dass sich nicht alle Akteure beteiligen können oder wollen. Wenn es um Antisemitismus oder Israelhass geht, sind Jüdinnen und Juden oft ausgeschlossen. Die jüdische Community in Berlin dagegen engagiert sich in vielen Allianzen, etwa gegen Rassismus oder Antiziganismus. Von jüdischer Seite ist die ausgestreckte Hand schon lange da.
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