Antisemitismus in der Schule: „Nur die Spitze des Eisbergs“
Oft werden antisemitische Vorfälle an Schulen nicht erkannt, sagt Forscherin Marina Chernivsky. Um das zu ändern, müssten Lehrkräfte sich selbst reflektieren.
taz: Frau Chernivsky, mit der Zuspitzung des Nahostkonflikts schnellten in den vergangenen Wochen die Zahlen antisemitischer Vorfälle in Deutschland in die Höhe. Was kommt davon in den Schulen an?
Marina Chernivsky: Aus Berichten von Betroffenen und dem Datenmaterial empirischer Studien können wir – unabhängig von der gegenwärtigen Eskalation – feststellen, dass die Bandbreite antisemitischer Dynamiken an Schulen sehr groß ist. Antisemitismus reicht von antisemitischer Hassrede bis hin zu offenen Beleidigungen und gar tätlichen Angriffen. Außerdem kommt Antisemitismus nicht nur unter Jugendlichen vor, sondern wird auch institutionell über Sprachbilder, Unterrichtsmaterialien und Lehrbücher vermittelt. Wenn sich dann eine Zuspitzung wie jetzt im Nahen Osten ereignet, trifft das auf den fruchtbaren Boden der schon bestehenden antisemitischen Ressentiments gegenüber Jüd:innen und dem Staat Israel. Mich überrascht es nicht, dass es gerade zu diesen antisemitischen Exzessen kommt – im Klassenraum, aber auch auf dem Schulhof oder in der Freizeit.
forscht und arbeitet zu Antisemitismus und Diskriminierung. Die Psychologin leitet das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment in Trägerschaft der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
Antisemitismus im Klassenzimmer: Wie sieht das aus?
Aus unseren Studien wissen wir, dass die Fähigkeit von Lehrkräften und Schulsozialpädagog:innen, auf antisemitische Situationen umfassend zu reagieren, oft eingeschränkt ist. Nicht alle erkennen die Vorfälle in ihrer antisemitischen Dimension. Beispielsweise wird bei einer Beleidigung ein persönlicher Konflikt vermutet, Antisemitismus wird auf Charaktereigenschaften oder die Pubertät geschoben. Erschwerend kommt hinzu, dass Antisemitismus in der Wahrnehmung vieler als historisch überwunden gilt und nur ungern in seiner heutigen Relevanz zugegeben wird.
Und wenn eine Situation als antisemitisch erkannt wird?
Oft wird mit Empörung reagiert, oder mit Betroffenheit. Antisemitismus widerspricht dem positiven Selbstbild und passt daher nicht ganz rein. Das Bedürfnis, damit abzuschließen, überwiegt nicht selten den Bedarf an einer tiefergehenden Intervention. Dabei sind einzelne antisemitische Situationen nur die Spitze des Eisbergs, denn Schule ist ein Abbild der Gesellschaft.
In Kooperation mit der Uni Potsdam starten Sie gerade ein Projekt, bei dem Sie Lehramtsstudierenden Strategien zum Umgang mit Antisemitismus und Rassismus in der Schule beibringen wollen. Worauf kommt es da an?
Dass die Lehrer:innen sich selbst reflektieren, nicht nur die Schüler:innen, und ihre Einstellungen in den Blick nehmen. Antisemitismus ist niemals das Problem der anderen, die Gedanken und Haltungen der hiesigen Lehrkräfte können nicht unberührt bleiben. Und wir dürfen nicht mehr nur auf Faktenwissen setzen. Wenn die Emotionen und Affekte, die da mit reinspielen, außen vor gelassen werden, kommen wir nicht weit.
Wie kommt die Auseinandersetzung mit eigenen Vorurteilen in der Lehrer:innenausbildung bisher vor?
Sehr selten! Es gibt natürlich wissenschaftliche Bildungsstandards, in denen historischer Antisemitismus oder der Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten auftauchen. Aber Antisemitismus und Rassismus sind keine neuen gesellschaftlichen Konflikte, sondern historische und soziale Phänomene, die sich tradieren. Schule darf sich nicht außerhalb dieser Verhältnisse setzen. Einige Hochschulen bieten Seminare dazu an, wie mit Rassismus und Antisemitismus im Klassenraum umgegangen werden kann. Aber ein flächendeckendes Kompetenzziel ist das noch nicht.
In der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 stimmen rund 35 Prozent der Befragten ganz oder teilweise der Aussage zu, dass Jüd:innen in Deutschland noch immer zu viel Einfluss hätten. Was tun als Lehrkraft, wenn eine solche Äußerung im Unterricht fällt?
Erst mal soll die Lehrkraft sich fragen, was sie selbst denkt und fühlt und wie ihre Haltung dazu ist. Sie muss sich mit den Schüler:innen zusammentun und gemeinsam überlegen: Wie kommt es dazu, dass solche Einstellungen an Bedeutung gewinnen und noch immer aktuell sind? Grundsätzlich gilt es, die Tat zu unterbinden, die Betroffenen zu schützen und zugleich sicherzustellen, dass eine dialogische Atmosphäre vorhanden ist für weitere pädagogische Schritte. Es gibt auch antisemitische Äußerungen, die in dem Moment nicht mehr bewältigbar sind und weitergemeldet werden müssen. Aber grundsätzlich müssen wir auf die umgebenden Gesellschaftsfaktoren, auf das System schauen. Warum entstehen solche Vorstellungen? Wir müssen mit Jugendlichen darüber reden.
Das klingt nach vielen großen Aufgaben, für die im Unterricht oft keine Zeit ist.
Ich glaube, Lehrer:innen müssen feststellen, dass sie nicht alles leisten können. Schule kann die gesellschaftlichen Probleme nicht allein bewältigen. Wenn wir unsere Erwartungen an Schule richten, sollen wir auch andere Verantwortlichkeiten wie die Politik im Blick haben. Und die Lehrer:innen brauchen die Rückendeckung ihrer Schule. Dann wird es auch in Ordnung sein, wenn zwei Unterrichtseinheiten gekippt werden, um einen Raum zum Gespräch zu schaffen. Aber es kommt auf die Situation an, man muss immer schauen, was in der Beziehung zu dem/der einen Schüler:in greifen könnte. Es gibt nicht das eine Erfolgsrezept.
Politikunterricht könnte ein Ort sein, an dem solche Themen dezidiert Platz finden. Allerdings stellen etwa Bayern, Thüringen und Rheinland-Pfalz gerade mal zwischen 0,5 und 1,7 Prozent der Lernzeit in Sekundarstufe I an Gymnasien für Politikunterricht zur Verfügung, wie ein Ranking von Forschern der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2019 ergibt…
Das System Schule ist nicht hinreichend angepasst an die Komplexität unserer gesellschaftlichen Realität. Wir brauchen mehr Stunden für politische Bildung und Geschichte, aber auch Raum für Gesellschaftskritik. Und dann dürfen Antisemitismus und Rassismus nicht nur sporadisch als Reaktion auf einen Vorfall behandelt werden. Bisher kommt gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit eher randständig im Kontext anderer Themen vor, oder wenn Lehrer:innen sich für eine Projektwoche oder einen Projekttag entscheiden. Da werden dann externe Partner eingeladen. Viele haben Angst vor Konflikten, fühlen sich nicht befähigt, Antisemitismus und Rassismus im Unterricht zu behandeln, und machen es deshalb nicht. Das ist ein Problem.
Wie können Lehrkräfte in der Praxis unterstützt werden?
Weiterbildung, Fallberatung und Supervision sind ausgesprochen wichtig und müssen an jeder Schule zum Standard gehören. Das Kollegium soll die Möglichkeit haben, laufende Fälle kollegial oder auch mit Einbeziehung externer Begleitung zu beraten. Wir erwarten von den Lehrer:innen etwas, was sie in ihrer Ausbildung nicht lernen. Lehrkräfte sind keine Sozialpädagog:innen, sie gehen anders an die Fälle ran. Fälle – wie Sozialpädagog:innen es tun – aus vielen Perspektiven und im Team zu betrachten, kann aber helfen, die Interventionen abzuwägen und die Sicht der Betroffenen nachzuvollziehen. Aber bisher sind viele Lehrkräfte bei der Intervention nach akuten Situationen auf sich allein gestellt.
Bleibt noch der Fall, dass Lehrer:innen sich rassistisch oder antisemitisch äußern. Wie kann Schule die Jugendlichen vor Diskriminierung durch Lehrkräfte schützen?
Wenn Eltern darauf aufmerksam machen, wenn Schüler:innen sich beschweren, dann muss Schule dafür offen sein, dass so was vorkommen kann, und den Mut haben, der Sache nachzugehen. Es gibt Fälle, wo rechtliche Schritte erforderlich sind oder Betroffene Unterstützung brauchen. Dafür können an den Schulen Gremien geschaffen werden, wo in Kooperation mit externen Partnern ein Umgang gefunden wird. Und es ist wichtig, ein Konzept zu haben, welches beim Umgang mit Vorfällen navigiert. Dieses kann sich jede Schule erarbeiten, unter Einbeziehung externer Expertise und des eigenen Kollegiums.
Und wenn die Schulen nicht wollen?
Für solche Fälle brauchen wir unabhängige Beschwerdestellen mit Durchgriffsrechten. Das heißt zum Beispiel, dass Beschwerdestellen die Familien gegenüber der Schule vertreten können oder eine verpflichtende Begleitung der Schule machen. Oft wird Familien ihre Erfahrung abgesprochen, und beim zweiten oder dritten Mal trauen sie sich dann nicht mehr, etwas zu sagen. Das darf nicht sein.
Wie sieht es mit antimuslimischem Rassismus aus, gibt es derzeit ebenfalls einen Anstieg von diskriminierenden Situationen in der Schule?
Antisemitismus und Rassismus sind traurige Realitäten an unseren Schulen. Antimuslimischer Rassismus ist es ebenfalls. Die Intention, gegen Antisemitismus vorzugehen, darf nicht in der Stigmatisierung von muslimisch gelesenen Jugendlichen ausarten, die sich zum Beispiel im Kontext des Nahostkonflikts antisemitisch geäußert haben. Da brauchen wir eine differenzierte und bedachte Herangehensweise, die keine weiteren Ab- und Ausgrenzungen schafft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren