Antisemitismus in Niedersachsen: Die Energiekrise als Nährboden?
Der Zentralrat der Juden warnt vor antijüdischen Angriffen im Winter. Die Landesverbände in Niedersachsen schätzen die Gefahr unterschiedlich ein.
Im Gegenteil: Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, warnt vor weiteren antisemitischen Angriffen im Winter. Infolge einer Energiekrise könnte sich Gewalt vermehrt gegen Minderheiten richten. Dazu zählen laut Schuster immer auch Juden.
Diese Warnung äußerte Schuster vergangene Woche gegenüber dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. „Querdenker“ und Coronaleugner hätten zwar derzeit aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine keine Plattform mehr – aber „wenn es im Winter kalt wird, wird diese Szene angreifen und, wie ich befürchte, Erfolg haben“.
Seit Jahren steigt die Zahl antisemitisch motivierter Straftaten in Deutschland. Erst im Mai meldete das Bundesinnenministerium für 2021 insgesamt 3.027 antijüdische Angriffe. Im Jahr zuvor waren es noch 2.351. „Der Judenhass hat ein erschreckendes Ausmaß erreicht“, sagt der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU). „Wir in Deutschland haben eine besondere Verantwortung für Jüdinnen und Juden.“ Deshalb sei es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen.
Antisemiten brauchen keine Gründe
Die Sorge, dass es im Winter vermehrt zu Angriffen kommen könnte, teilt Michael Fürst vom Landesverband jüdischer Gemeinden in Niedersachsen nicht. „Diejenigen, die Antisemiten sind, brauchen dafür kein Problem mit der Gas- oder Stromversorgung“, sagt Fürst. „Deswegen werden sie nicht mehr.“
Auch die Zunahme der Straftaten in den vergangenen Jahren habe nichts mit neuen Entwicklungen zu tun. „Die, die sowieso schon antisemitisch gedacht haben, bleiben das auch weiterhin und werden auch weiterhin nicht unsere Freunde sein.“
Rebecca Seidler vom liberalen Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Niedersachsen sieht das anders. Sie teile Schusters Sorge insofern, „als dass wir schon im Zuge der Coronapandemie gesehen haben, dass sich Antisemitismus verstärkt hat“. Das habe man auch direkt in den Gemeinden zu spüren bekommen.
Seidler berichtet von einem Vorfall Ende Juni in Hannover, als eine Person trotz Sicherheitspersonal und Polizeipräsenz vor einer Synagoge „massive antisemitische und volksverhetzende Aussagen skandierte“. „Wir merken, dass Hemmschwellen fallen“, sagt Seidler. „Hier muss man klare Kante zeigen.“
Solidarische Zivilgesellschaft nötig
Dass der Schutz jüdischen Lebens nicht nur eine Frage der Sicherheitsmaßnahmen sei, sondern vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sehen alle Seiten ein. Dazu müsse sich laut Seidler die Zivilgesellschaft solidarisch zeigen: „Da sehe ich es im ganz Kleinen. Dass man nicht drüber hinwegschweigt, wenn man am Arbeitsplatz Sprüche oder krude Aussagen hört.“
Fortbildungen zu Formen und Artikulierung von Antisemitismus seien deshalb besonders wichtig. Die Gesellschaft müsse verstehen, „dass es nicht nur eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist, die sich gegen Jüdinnen und Juden wendet, sondern ein Angriff auf unsere Demokratie“.
Fürst sieht die Aufgabe vor allem in den Schulen und bei Eltern. Diese hätten wesentlichen Einfluss auf die Erziehung der Kinder und könnten so schon früh über Antisemitismus aufklären. Der Schutz jüdischen Lebens „ist nicht nur Frage des Staates“, sagt Fürst. Es müsse intensiv auf die Ausbildung von Lehrer:innen sowie Beschäftigten der Justiz eingewirkt werden.
Fürst sieht Antisemitismus mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wie er im Juni dem Sonntagsblatt sagte. Die Verbreitung von Klischees und Falschmeldungen über Juden habe vor allem durch soziale Medien zugenommen: „Wenn das immer wieder gelesen wird, glaubt man, das ist alles wahr.“
Aktuelle keine konkrete Gefahr
Auch die niedersächsische Landesregierung hat in den vergangenen Jahren Unterstützung zugesagt. Fünf Millionen Euro sollen in bauliche und technische Sicherheitsmaßnahmen jüdischer Einrichtungen fließen. Die Zuwendungen des Landes seien schon seit zwei Jahren geplant, sagt Fürst.
Pascal Kübler vom niedersächsischen Innenministerium bestätigt der taz eine „erhöhte abstrakte Gefährdungslage für jüdische Einrichtungen“, auch wenn in Niedersachsen aktuell keine konkrete Gefahr vorliege. Dies gehe auch aus dem Verfassungsschutzbericht 2021 des Landes hervor.
Die finanzielle Hilfe des Landes für Sicherheitsmaßnahmen reiche aus, sagt Michael Fürst. Rebecca Seidler verweist auf die zweieinhalb Jahre alte Planung und gestiegene Preise: „Wir müssen sehen, inwiefern wir mit dem Kultusministerium nachverhandeln.“
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