Antisemitismus in Frankreich: Notwendig, aber nicht ausreichend
Hunderttausende demonstrieren parteiübergreifend und landesweit gegen Antisemitismus. Vielen dämmert, dass solche Aktionen zu wenig bewirken.
So organisierte das rechtsextreme Rassemblement nationale (Ex-Front national), das von Einheitsappell der 50 politischen Parteien, Organisationen und Gewerkschaften ausgeschlossen worden war, eine separate kleine Gedenkfeier für die Opfer des Antisemitismus.
Bei der Pariser Kundgebung waren viele Persönlichkeiten anwesend: Premierminister Edouard Philippe mit 15 Regierungsmitgliedern, die beiden ehemaligen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und François Hollande sowie zahlreiche ehemalige Regierungschefs und Minister.
Der amtierende Staatschef Emmanuel Macron hatte es vorgezogen, in Begleitung der Vorsitzenden des Senats und der Nationalversammlung, Gérard Larcher und Richard Ferrand, zum Zeichen seiner Solidarität im Kampf gegen den Antisemitismus die Pariser Gedenkstätte für die Holocaust-Opfer, das Mémorial de la Shoah, zu besuchen.
Maßnahmen gegen Hass
Unter den weniger Prominenten ist die etwa 65-jährige Jüdin Emma: „Ich fühle mich selber bedroht. Wo bleibt die große Empörung?“ Neben ihr fordert ein jüngerer Mann Maßnahmen gegen den im Internet verbreiteten Hass: „In den Netzwerken glauben Antisemiten, sie könnten ungestraft ihre Lügen verbreiten. Das Schlimmste ist, dass gerade Jugendlich nicht mal wissen, dass sie sich dabei strafbar machen.“
„Es ist nicht an den Juden, gegen den Antisemitismus zu kämpfen, sondern an uns allen“, sagte die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur der Libération. Der Satz war ein Leitmotiv bei den zahlreichen Protesten gegen antijüdische Aggressionen in Frankreich.
„Alle“ waren nicht zugegen bei den Kundgebungen in Paris und in rund 70 anderen Städten des Landes am Dienstagabend, aber die TeilnehmerInnen an den Kundgebungen waren dennoch zahlreich. Vielen Nichtjuden war es ein zutiefst empfundenes Anliegen, ihre persönliche Solidarität mit den attackierten jüdischen MitbürgerInnen öffentlich zu zeigen.
Karim, ein Elektriker aus dem Vorort Stains, trägt eine gelbe Warnweste, auf die er wegen des antisemitischen Angriffs auf den Philosophen Alain Finkielkraut am Rande der Proteste der Gilets jaunes „Not in my name“ und „Ensemble contre l'antisémitisme“ geschrieben hat.
Viele Meinungsverschiedenheiten
Viele tragen schweigend ein Schild mit dem Hashtag „#ÇaSuffit (Jetzt reicht's), während gleich daneben andere in Diskussionen verwickelt sind. An Meinungsverschiedenheiten mangelt es nicht. So steht auf dem Pappschild eines älteren Demonstranten: „Ein verantwortungsbewusster Antizionismus hat nichts mit Antisemitismus gemein, ganz im Gegenteil.“ Diese These verteidigt er verbissen gegen andere, die im Antizionismus nur eine verkappte Version des Antisemitismus sehen.
Doch dann richten sich die Augen auf die Tribüne. Nach einer kurzen Begrüssung der Versammelten erhält der Rap-Musiker Abd al Malik einen besonders herzlichen Applaus, als er erklärt, er sei hier „als Franzose, Patriot, als Elsässer, Schwarzer und Muslim“. Dann stimmte er mit Jugendlichen eine besonders besinnlich klingende „Marseillaise“ an.
Die MittelschülerInnen aus dem Collège Paul Valéry hatten zuvor kurze Texte gegen den Rassismus von Frantz Fanon, Primo Levi und Simone Veil vorgetragen sowie auch Georges Moustakis Hymne gegen den Rassimus „Avec la gueule de Métèque, de Juif errant, de pâtre grec…“ (Mit meiner Fresse eines Heimatlosen, eines umherirrenden Juden und eines griechischen Schafhirten).
Es sind viele tausend Menschen, den großen Platz, auf dessen Mitte eine Statue das Leitmotif „Liberté, Egalité, Fraternité“ symbolisiert, vermögen sie aber nicht ganz zu füllen. Auch so können viele die bange Befürchtung nicht verdrängen, dass es mehr braucht, um die derzeit sich mehrenden antisemitischen Angriffe zu stoppen. Auch Premierminister Philippe kommt zu dem Schlus diese Demonstration der Einheit gegen den Antisemitismus sei „notwendig, aber nicht ausreichend“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste