Antisemitismus aus Kindersicht: „Ich weigere mich zu hassen“
Fred Heyman überlebte als Teenager in Berlin die Judenverfolgung der Nazis. Ein Bericht über ein Leben als gebrandmarkter Außenseiter.
„Meine früheste Erinnerung geht zurück bis ins Jahr 1932. Da war ich drei Jahre alt. Ich kann mich an riesige Bilder von Adolf Hitler an den Litfaßsäulen erinnern. Das war sehr beeindruckend für mich. Es gab damals eine Menge Paraden. Es kamen Autos vorbei, bei denen auf dem Dach ein Lautsprecher installiert war. Sie spielten Marschmusik. Ich wusste nicht, was da los war. Aber es war sehr aufregend. Später habe ich versucht herauszufinden, was damals passiert ist. Nun, das muss der Wahlkampf zwischen Adolf Hitler und Paul von Hindenburg um das Amt des Reichspräsidenten gewesen sein.“
Den ersten Wahlgang am 13. März 1932 gewann Hindenburg mit 49,5 Prozent der Stimmen, Hitler erhielt als Zweitplatzierter 30,1 Prozent. Die SPD hatte darauf verzichtet, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, und unterstützte den konservativen Weltkriegshelden Hindenburg. Ernst Thälmann von der KPD erzielte 13,2 Prozent. Im zweiten Wahlgang am 10. April 1932 setzte sich Hindenburg mit 53,1 Prozent gegen Hitler (36,8 Prozent) durch. Viele Nazigegner glaubten damals, damit habe sich der Machtanspruch der NSDAP erledigt. Doch nur neun Monate später wurde Hitler Reichskanzler und die NS-Herrschaft begann.
„Ich kann mich an die Aufregung in der Stadt erinnern, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Einmal, da spielte ich im Hof unseres Hauses, hielt Hitler eine Rede. Nachbarn hatten ihr Radio auf das Fensterbrett gestellt, damit jeder mitbekam, dass sie stolze Besitzer eines solchen Geräts waren. Also hörte ich Hitlers Rede. Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. Wir hatten auch ein Radio, aber da liefen keine Hitler-Reden. Mein Vater war Jude.
Im Ersten Weltkrieg wurde er als deutscher Soldat eingezogen und erhielt als Kriegsauszeichnung das Eiserne Kreuz. Später lernte er meine Mutter kennen und beide heirateten. Ich wurde am 25. April 1929 in Berlin geboren. Mein Vater war von Beruf Innenarchitekt, meine Mutter Hausfrau. Sie war evangelisch. Sie konvertierte auf Wunsch meines Vaters zum Judentum. So konnte ich als Jude aufgezogen werden. Dass meine Mutter ursprünglich keine Jüdin gewesen ist, hat uns später beim Überleben geholfen. Ich wusste, dass ich ein Jude bin. Aber den Antisemitismus habe ich nicht verstanden.“
Zum Auswandern fehlte das Geld
Aufgrund seiner ursprünglich christlichen Mutter und der Tatsache, dass er in einem jüdisch geprägten Elternhaus aufwuchs, galt Manfred Heymann nach den rassistischen Kategorien der Nazis als „Geltungsjude“. Er unterlag damit vollständig den antisemitischen Gesetzen und Verordnungen und musste zum Beispiel ab September 1941 den „Judenstern“ tragen. Etwas besser gestellt waren Kinder aus „privilegierten Mischehen“, bei denen die Eltern nicht der jüdischen Gemeinde angehörten.
„Als Kind fühlte ich mich in Berlin bald als Außenseiter. Die nichtjüdischen Kinder hörten auf, mit mir zu spielen. 1935, da war ich sechs Jahre alt, wurde ich in der Joachimstaler Straße eingeschult. Ich bekam auch eine Schultüte. Schon am ersten Tag begannen die Kinder mich zu necken: ‚Du bist Jude, du bist Jude …‘ Der Lehrer hatte ihnen gesagt: ‚Wir haben einen Juden in unserer Klasse, aber der wird nicht lange in der Klasse bleiben dürfen, weil er in eine Judenschule wechseln muss.‘ Schon nach kurzer Zeit musste ich dort weggehen und hatte fortan eine jüdische Schule in der Fasanenstraße zu besuchen.
Ich erinnere mich an die Kristallnacht. Das Gemeindehaus in der Fasanenstraße wurde vollkommen zerstört. Ich sah meine Schule brennen. Ich kam vom Wittenbergplatz. Ich lief über das zerbrochene Glas der zerstörten Schaufenster auf den Bürgersteigen. Danach wurden wir in einem anderen Gebäude unterrichtet. Ich weiß nicht mehr genau, wann der Unterricht endete, vielleicht nach ein- oder eineinhalb Jahren. Danach durften wir nicht mehr in die Schule gehen. Ich habe später keine Freunde mehr gehabt.“
Seit August 1938 musste Manfred Heymann den Zwangsnamen „Israel“ tragen. Ab November war jüdischen Kindern der Besuch von allgemeinen Schulen verboten, in vielen Fällen, wie bei Heymann, wurden sie aber schon zuvor zum Wechsel an eine jüdische Schule gezwungen. Am 30. Juni 1942 mussten sämtliche jüdische Schulen im Deutschen Reich geschlossen werden. Juden unterlagen fortan einem Bildungsverbot.
„Wir konnten nicht auswandern. Uns fehlte das nötige Geld. Wir hätten Verwandte in den USA benötigt, um Papiere zu erhalten. Wir hatten keine. Es gab damals noch die Möglichkeit, mit einem Kindertransport nach Palästina zu kommen. Meine Eltern haben wohl darüber gesprochen. Und sie diskutierten über eine Auswanderung nach Schanghai. Aber wer wollte schon nach China? Wir wussten auch nicht, was noch passieren würde. Nein, wir blieben die ganze Zeit über in Berlin.“
Trauma und Deporatation
Anfang 1933 lebten rund 175.000 Juden in Berlin. Bis zum Auswanderungsverbot im Jahr 1941 gelang mehr als der Hälfte die rechtzeitige Emigration, obwohl fast alle Staaten der Erde ihre Hilfe verweigerten und strenge Einreisebestimmungen erließen. Mit Kindertransporten konnten mehr als 10.000 Mädchen und Jungen ohne Begleitung ihrer Eltern nach Großbritannien, in die Niederlande und nach Palästina flüchten. Schanghai war nach dem Kriegsbeginn eine der letzten Zufluchtsstätten für deutsche Juden, denn dort verlangten die Behörden kein Visum.
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Was ist Antisemitismus für dich?
„Mein Vater wurde an einem Samstagmorgen verhaftet und in der Rosenstraße inhaftiert, wohin man alle Angehörigen von ‚Mischehen‘ gebracht hatte. Meine Mutter sagte: ‚Der Vater kommt nicht von der Zwangsarbeit nach Hause.‘ Sie schmierte einige Brote, weil sie richtig vermutete, dass er dort, wo er gefangen gehalten wurde, nichts zu essen bekam. Wir verließen unsere Wohnung und gingen zur Rosenstraße. Ich muss dort traumatisiert worden sein, denn ich habe keinerlei Erinnerung mehr an das, was dort passierte. Ich weiß nur, dass ich dort gewesen bin.“
Im Herbst 1941 hatten die Deportationen in den besetzten Osten begonnen. Ende 1942 lebten nur noch etwa 33.000 Juden in Berlin. Am 27. Februar 1943 begann die „Fabrikaktion“, bei der SS und Gestapo alle verbliebenen jüdischen Zwangsarbeiter schlagartig an ihren Arbeitsplätzen festsetzten, um sie wenig später nach Auschwitz zu deportieren. Unter den etwa 8.000 Verhafteten befanden sich auch rund 2.000 jüdische Partner von „Mischehen“ und „Geltungsjuden“, die man in ein Gebäude in der Rosenstraße brachte. Bald darauf sammelten sich mehr und mehr Ehepartner in der Rosenstraße, um die Freilassung ihrer Angehörigen zu verlangen. Die Proteste waren erfolgreich. Wohl um Aufsehen zu vermeiden, entließ die Gestapo nach und nach alle Inhaftierten. Wahrscheinlich aber hatten die Nazis ihre Deportation nicht geplant, da der verhaftete Personenkreis nicht zur Ermordung vorgesehen war. Doch das konnte 1943 niemand wissen.
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„Wir kamen nach Hause und dort sagte man meiner Mutter, dass die Gestapo dort gewesen sei, um ihren Sohn mitzunehmen. Meine Mutter schickte mich zu Bett. 20 Minuten später, ich lag im Bett, klingelte es und die Gestapo kam in die Wohnung. Meine Mutter sprach mit ihnen und sagte, dass ich Fieber hätte und krank sei. Zwei Männer kamen in mein Zimmer, sie hatten Zivilkleidung an, und einer fühlte nach meiner Temperatur und sagte: ‚Dieser Jude ist krank, wir werden ihn mitnehmen, wenn er wieder gesund ist.‘
Alle meine Freunde durften nur Juden sein. Ich hatte ja viele Klassenkameraden. Sie verschwanden einfach. Ich erinnere mich nur an einen einzigen Freund. Sein Name war Rudi Seidel. Rudi lebte in der Nachbarschaft und er kam regelmäßig in unsere Wohnung. Wir haben mit meiner elektrischen Eisenbahn gespielt. Eines Tages kam meine Mutter ins Zimmer und sagte Rudi, er müsse jetzt nach Hause gehen. Rudi verabschiedete sich und ich sagte ihm: ‚Bis demnächst.‘ Er muss etwas gewusst haben, denn seine Verabschiedung war sehr ernsthaft. Nun, er ist nach Hause gekommen und dort wartete die Gestapo. Die Familie kam nach Auschwitz. Ich habe Rudi nie wieder gesehen.“
Sechs Millionen Büroklammern
Rudi Heinz Seidel, geboren am 17. Januar 1929 in Breslau, wurde am 12. März 1943 von Berlin nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Er zählt zu den etwa 55.000 Berliner Juden, die zwischen 1933 und 1945 getötet wurden. Aus dem „Großdeutschen Reich“ deportierten die Nationalsozialisten mindestens 265.000 Menschen in die Vernichtung.
„Viele, viele Jahre später, in einer Schule in Tennessee, wurde ich für diesen letzten Augenblick mit Rudi entschädigt. Dort haben Kinder versucht nachzuvollziehen, was die Zahl von sechs Millionen Ermordeten bedeutet. Sie kamen auf die Idee, Büroklammern zu sammeln – jede Klammer für einen Ermordeten. Ich dachte, dass sie vielleicht zehntausend sammeln. Aber sie sammelten Millionen, mehr als sechs Millionen. Es fand sich einer der Güterwaggons, mit denen die Juden damals in den Tod geschickt wurden. Der Waggon wurde aus Deutschland nach Tennessee gebracht und die Kinder haben daraus ein Denkmal gemacht, mit all den Büroklammern darin. Ich hatte dort die Möglichkeit, eine Karte zu hinterlassen. Ich schrieb den Namen von Rudi darauf und zusammen mit einer Büroklammer ist er in dem Waggon hinterlegt.“
Die öffentliche Kennzeichnung mit dem „Judenstern“ wurde wenige Wochen vor Beginn der Deportationen im September 1941 verfügt. Die Polizeiverordnung bestimmte, dass sich Juden mit der Vollendung des sechsten Lebensjahres in der Öffentlichkeit nicht ohne den Stern zeigen durften. Die Quittungen beim Kauf der Sterne – jeder kostete zehn Pfennige und musste von den Betroffenen bezahlt werden – erlaubten eine exakte Registrierung aller Juden.
„Warum bin ich am Leben geblieben? Es ist, glaube ich, ein Geschenk Gottes. Es war Juden nicht erlaubt, Fahrrad zu fahren. Es war nicht erlaubt, ein Fahrrad zu besitzen. Aber ich besaß ein Fahrrad und fuhr damit. Ich erinnere mich, dass ich zum Anhalter Bahnhof gegangen bin. Die Reisenden kamen dort mit ihrem Gepäck heraus, und ich habe geholfen, den Leuten ihre Koffer zu tragen. Und dann bat ich sie, mir doch einen Groschen zu geben. Die Leute wussten natürlich nicht, dass ich jüdisch bin. Andere Kinder haben das auch gemacht. Das war natürlich verboten, auch für Nichtjuden. Manchmal kam die Polizei und wir rannten fort.
Mein Vater musste den Judenstern tragen, wenn er zur Arbeit ging. Ich trug den Stern nicht. Ich brach die Gesetze – aber ich bin einfach nie erwischt worden. Ich lebte wie ein normales Kind. Hätte mich ein Polizist angehalten, ich weiß nicht, was passiert wäre. Wir besaßen keine falschen Papiere. Ich besaß nur die Kennkarte mit dem große J. Aber niemand fragte nach der Karte.“
Fremde Hilfe
Um der Deportation zu entgehen, tauchten vermutlich etwa 6.000 Berliner Juden unter. Sie konnten dort nur mithilfe christlicher Unterstützer überleben, mussten häufig ihre unsicheren Quartiere wechseln und wurden von der Gestapo gejagt. Anderen Verfolgten gelang es, eine halblegale Existenz zu führen und so zu überleben.
„Zuerst mussten wir die Erdgeschosswohnung in der Bayreuther Straße räumen und in ein oberes Geschoss umziehen. Juden sollten nicht mehr im Erdgeschoss wohnen, hieß es. Bald danach zwang uns die Gestapo zum Umzug in die Wallstraße. Wir mussten alles zurücklassen. Dort gab es noch eine andere jüdische Familie und wir bewohnten zusammen eine Wohnung, die man geteilt hatte. Später wurde diese Familie nach Auschwitz deportiert. Dann wurde das Gebäude bei einem Luftangriff zerstört.
Wir lebten danach irgendwo in Friedrichshain. Wir waren nicht mehr bei der Polizei registriert. Das war irgendeine leere Wohnung. Die Russen kamen näher an die Stadt heran. Dann hieß es, alle Frauen und Kinder sollten die Stadt verlassen, weil es nicht genügend Bunker gebe. Wir landeten wieder an der Wallstraße, nahe am Fluss, auf einem Trümmergrundstück. Wir hatten keine Adresse mehr. Essen war sehr schwierig. Wir waren immer hungrig. Ab und zu gab es Kartoffeln.
Und dann gab es da diese katholische Familie, die uns half. Sie wussten, dass wir Juden waren. Der Mann hieß Max Manthey, seine Frau Anni. Wir freundeten uns mit der Familie in den 1930er Jahren an, als ich noch ein kleines Kind war. Es waren wundervolle menschliche Wesen. Sie halfen uns in all den Jahren der Naziherrschaft. Sie hatten zum Beispiel ein Häuschen weit draußen in Ahrensfelde. Max besaß einen dreirädrigen Transporter. Also trafen wir uns am Potsdamer Platz, wo es nicht auffiel. Und sie nahmen uns mit nach Ahrensfelde und wir konnten dort einen schönen Sonntag verbringen, wo uns niemand kannte. Das ging auch noch während des Krieges. Sie versorgten uns mit Lebensmitteln. Max arbeitete in einer Käsefabrik und musste nicht in den Krieg ziehen. Er brachte uns regelmäßig einen Karton mit Käse. Den haben wir dann auf dem Schwarzmarkt verkauft. Sie halfen uns zu überleben. Auch damals in der Wallstraße.
Am Kriegsende kamen die Russen in den Bunker und wir riefen, hier seien nur Zivilisten. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen. Ich sagte einem Leutnant: ‚Ich bin ein Jude, ich bin ein Jude!‘ Er antwortete mir auf Deutsch, dass das nicht stimme, denn Adolf Hitler habe alle Juden umgebracht. Ich war 16 Jahre alt.“
Was bleibt, ist die Mission
Etwa 8.000 Berliner Juden überlebten die Nazizeit. 4.700 von ihnen waren durch die Ehe mit einem „arischen“ Partner vor der Deportation geschützt, so wie die Heymanns. 1.900 kehrten aus den Lagern zurück, vielleicht 1.700 überlebten im Untergrund. Nur die wenigsten von ihnen wollten danach in Deutschland bleiben. Auch Familie Heymann entschied sich 1947 zur Auswanderung – in die Vereinigten Staaten. Aus dem verfolgten Teenager Manfred Heymann wurde dort der erfolgreiche Elektroingenieur Fred Heyman.
„Nein, ich habe die Deutschen nicht gehasst. Wie hätte ich sie hassen sollen? Die Mantheys waren Deutsche und die Nazis waren Deutsche. Es gab gute Menschen und es gab schlechte Menschen. Ich kann nicht einmal die Nazis wirklich hassen. Hass ist etwas Schlimmes, daraus erwachsen nur schlechte Dinge. Ich weigere mich zu hassen.
Als es geschehen ist, waren die Juden allein. Die meisten Menschen halfen nicht. Das Gegenteil eines Bystanders (Zuschauers; d. Red.) ist ein Upstander. Den Begriff finden Sie nicht im Wörterbuch. Ich möchte ein Upstander sein. Ich möchte, dass die Menschen zu Upstandern werden. Deshalb besuche ich Schulen und sage den Kindern: ‚Ihr müsst aufpassen. Es gibt Menschen, die andere Menschen angreifen.‘ Das ist meine Mission.
Seit dem Tod meiner Frau vor zwölf Jahren bin ich in den Staaten über 400 Mal aufgetreten. Ich hatte zuvor niemals über den Holocaust gesprochen. Dann erhielt ich einen Telefonanruf. Ich sollte als Überlebender sprechen. Es gibt eine Chance, dass ich mit meinen Auftritten die Jugendlichen ein bisschen beeinflusst habe. Ich bin 42.000 Schülern begegnet. Es gibt eine Chance, dass meine Geschichte ein wenig das Leben von einigen verändert hat. Ich fühle mich belohnt. Und dazu zählt auch meine Geschichte.“
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