Antisemitismus an Schulen in Deutschland: Neue, alte Niedertracht
Julia Bernsteins wichtige Studie über „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“ klärt auf – und bietet Handlungsempfehlungen.
Nur wenigen Themen ist es in den letzten Wochen gelungen, neben allem, was mit Corona zu tun hat, öffentliches Interesse zu erwecken, der Auseinandersetzung über Antisemitismus ist es gelungen.
Die Forderung des nordrhein-westfälischen FDP-Politikers Lorenz Deutsch, dem sich später der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung sowie der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland angeschlossen haben, den afrikanischen Philosophen Achille Mbembe wegen Formen des israelbezogenen Antisemitismus von der Ruhrbiennale auszuladen, hat es in die Schlagzeilen geschafft.
Aber: Was genau ist eigentlich „israelbezogener Antisemitismus“ und wie äußert er sich? Eine neue Studie der Kulturwissenschaftlerin Julia Bernstein, sie ist Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft in Frankfurt am Main, verheißt Aufschluss. Das von Bernstein in Kooperation mit namhaften KollegInnen herausgegebene Werk „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“ verspricht, auf über 600 Seiten, „Befunde, Analysen und Handlungsoptionen“ mit Blick auf Antisemitismus an Schulen.
All dies beruht auf einer anspruchsvollen, siebzehn Monate währenden qualitativen Studie von insgesamt mehr als 250 Interviews mit jüdischen und nichtjüdischen SchülerInnen, jüdischen und nichtjüdischen LehrerInnen, mit Eltern, SozialarbeiterInnen und ExpertInnen.
Antisemitismus in all seine Facetten
Die handbuchartige Publikation enthält nicht nur genaueste, höchst differenzierte, bestens übersichtliche Darstellungen dessen, was Antisemitismus in all seinen religiösen, kulturellen und historischen Facetten war und ist, sondern zudem – wenn auch leider nicht altersbezogen didaktisch heruntergebrochen – grundsätzlich gut nachvollziehbare Handlungsempfehlungen; einschließlich eines Abschnitts „Basiswissen Shoah“.
Worum geht es? Typisch für schulischen Antisemitismus ist etwa der erinnerte Dialog zwischen einem jüdischen Mädchen und einem „türkischen“ Schüler: „Du bist doch Jude“, Diana: „Ja, aber das heißt nichts.“ Schüler: „Ihr Juden seid doch scheiße. Schau mal nach Israel, da essen Soldaten Kinder.“ Als Quelle für dieses Wissen gab der Schüler die türkischen Nachrichten an.
Julia Bernstein: „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“. Beltz Verlag, Weinheim 2020, 616 S., 49,95 Euro
Entsprechend hält die Studie zu Recht fest, dass sich Antisemitismus, heute vor allem israelbezogener Antisemitismus, besonders dann manifestiert, wenn im Unterricht der Nahostkonflikt erörtert wird. Als zentrales Problem erweist sich dann die Frage nach der Unterscheidung zwischen israelbezogenem Antisemitismus hier und einer „Kritik an israelischer Politik“ dort.
Dämonisierung Israels
Klare Fälle sind dann die Dämonisierung Israels als „Nazi-Staat“ beziehungsweise als eines Staats „landraubender Besatzer“, weshalb sich die AutorInnen des Bandes auch sicher sind, dass die BDS- Bewegung antisemitisch ist – was etwa kürzlich von israelischen WissenschaftlerInnen wie Moshe Zimmermann und Eva Illouz bestritten wurde.
Dass die Studie selbst zu Fehlurteilen neigt, wird deutlich, wenn die „Nakba“ von 1947/48 nicht nur als Vertreibung, sondern als „freiwillige Ausreise“ der palästinensischen Araber bezeichnet wird. Einige Seiten weiter wird dieser Vorgang dann jedoch historisch korrekt als „Vertreibung“ bezeichnet.
Wie aber soll man in der Klasse israelbezogenem Antisemitismus begegnen? Das Handbuch hält es für entscheidend, dass Lehrkräfte derlei überhaupt erkennen, sich aber nicht auf inhaltliche Diskussionen über den Nahostkonflikt einlassen, wenn SchülerInnen „Israel entlang der antijudaistischen Legende als ‚Kindermörder‘ dämonisieren oder Israelis mit Nationalsozialist*innen gleichsetzen“.
Der Rezensent jedenfalls ist in dieser Frage entgegengesetzter Meinung, man sollte Diskussionen zulassen, was allerdings voraussetzen würde, dass die Lehrkräfte selbst über solides historisches Wissen verfügen.
Wichtiges Werk
Diskussionsverweigerung und Ächtung sind jedenfalls keine sinnvollen pädagogischen Konzepte. Der weitere Rat, ExpertInnen einzuladen, ist gewiss nicht falsch – ersetzt aber freilich nicht eine eigene, gediegene zeithistorische Grundausbildung; entsprechende bildungspolitische Forderungen erhebt die Studie jedoch leider nicht. Gleichwohl liegt mit Bernsteins „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“ eines der wichtigsten Werke zur Thematik vor, das bisher überhaupt seit 1945 in Deutschland erschienen ist.
Gewiss: Für ein Selbststudium ist dies Buch nicht nur höchst umfangreich und anspruchsvoll, auch nicht eben preisgünstig; für alle jedoch, die später einmal nicht nur Geschichte, Politik oder Religion unterrichten wollen, sondern die überhaupt in Schulen der Immigrationsgesellschaft mündige StaatsbürgerInnen bilden, ist es unverzichtbar.
Daher ist allen geschichts- und politikdidaktischen Seminaren und Bibliotheken die Anschaffung dringend zu empfehlen. Wem aber – sei es als LehrerIn oder DozentIn – Zeitgeschichte und staatsbürgerliche Bildung am Herzen liegen, sollte doch über einen Erwerb und die Mühe des Selbststudiums nachdenken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus