Antisemitismus an Berliner Schule: „Jude“ ist oft ein Schimpfwort
An einer Friedenauer Schule wird ein Schüler angegriffen, weil er Jude ist. Die Täter sind arabisch-türkischer Herkunft. Ein Einzelfall?
Ein Schüler wird an einer Schule drangsaliert, beleidigt, schließlich an der Bushaltestelle in den Schwitzkasten genommen und gewürgt – weil er Jude ist. Nach vier Monaten an der Schule, nach dem Vorfall an der Bushaltestelle, nehmen die Eltern ihren 14-jährigen Sohn von der Schule – auch, weil die Schulleitung nur zögerlich reagiert habe, so ihr Vorwurf, über den Ende März zunächst die jüdische Wochenzeitung The Jewish Chronicle berichtete.
Der Fall an der Friedenauer Gemeinschaftsschule zieht nun eine Grundsatzdebatte über Antisemitismus an Berliner Schulen nach sich. Sollten die Vorwürfe stimmen, sei das ein „erschütternder Vorgang“, ließ sich am Montag der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, zitieren. Hier gehe es „um Antisemitismus übelster Art“.
Laut der Mutter des jüdischen Jungen soll ein Mitschüler unter anderem gesagt haben: „Eigentlich bist du ein ganz netter Kerl. Aber wir können nicht befreundet sein, weil alle Juden Mörder sind.“ Schulleiter Uwe Runkel mochte dem Tagesspiegel den letzten Halbsatz nicht bestätigen. Inzwischen äußert sich die Schulleitung nicht mehr öffentlich zu dem Fall.
In einem offenen Brief auf ihrer Homepage verteidigt sie sich aber dagegen, die Vorfälle nicht ernst genommen zu haben. Als man von den verbalen Attacken gehört habe, habe man die Großeltern des Schülers, Zeitzeugen des Holocaust, in die Klasse eingeladen, „um dort das Thema aufzuarbeiten.“ Nach dem Angriff an der Bushaltestelle habe man dann Strafanzeige gegen die Täter erstattet, die von der Schule verwiesen werden sollen.
Der Fall ein Einzelfall?
Ist der Friedenauer Fall nun ein Einzelfall? In seiner Heftigkeit schon, sagt Derviş Hizarcı, Vorstandsvorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA). Laut Senatsbildungsverwaltung wurden im letzten Schuljahr zehn Fälle von Antisemitismus zur Anzeige gebracht. Das klinge nicht besonders viel. „Aber dass Eltern ihr Kind nun wegen antisemitischer Anfeindungen von der Schule nehmen müssen, ist schon heftig.“
Der KIgA bietet Workshops an, die SchülerInnen für das Thema Antisemitismus sensibilisieren sollen. Laut Hizarcı tun sich vor allem pubertierende SchülerInnen oft schwer mit der Frage nach Identität und Zugehörigkeit. In den Workshops setze man sich daher viel mit Biografien auseinander – der eigenen, der von Angehörigen. „Es geht darum, den Schülern beizubringen: Es gibt nicht den Prototyp Jude oder den Klischee-Muslimen“, sagt Hizarcı.
Appell an die muslimische Gemeinschaft
65 Prozent der SchülerInnen an der Friedenauer Schule sind nichtdeutscher Herkunft, die meisten haben einen türkisch-arabischen Hintergrund – auch die Täter. Zentralratspräsident Schuster appellierte insbesondere an die Adresse der muslimischen Gemeinschaft, „den antisemitischen Tendenzen in ihren Reihen mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten“.
Mohamad Hajjaj, Zentralrat Muslime
Mohamad Hajjaj, Vorsitzender des Landesverbands des Zentralrats der Muslime, findet es bedauerlich, dass die Debatte damit nun „gleich so ethnisiert“ werde. Auch Hizarcı hält das „für den Dialog und eine sachliche Aufarbeitung des Falls nicht förderlich“. Insbesondere „der salonfähige Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft“ gerate dabei aus dem Blick. Hajjaj hat die Erfahrung gemacht: „Auch auf Schulhöfen, wo mehrheitliche deutsche Kinder sind, ist ‚Jude‘ ein Schimpfwort.“
Hajjaj, dessen Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit ebenfalls Antirassismusarbeit an Schulen macht, sagt ähnlich wie auch sein Kollege Hizarcı: Oft sei Unsicherheit der muslimischen Jugendlichen Grund für antisemitische Ausfälle. „Da schaut die Familie zu Hause Al-Dschasira und äußert sich der Vater vielleicht beim Thema Gazakonflikt noch abfällig über Juden, und dann wird das nachgeplappert.“ In der Schule hingegen treffen sie dann auf einen netten Mitschüler – der aber eben Jude ist. „Das ist ein Zwiespalt, den viele dann mit einer Art theologischem Analphabetismus begegnen.“ Denn natürlich, sagt Hajjaj, habe Antisemitismus im Islam keinen Platz.
Zentralratspräsident Schuster hat die Senatsbildungsverwaltung aufgefordert, den Fall aufzuarbeiten. „Wir setzen alles daran, den Vorfall aufzuklären“, sagte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) am Montag. Dazu sei die Antidiskriminierungsstelle des Senates eingeschaltet worden, die jetzt Gespräche mit allen Beteiligten führen soll.
Ein bundesweites Phänomen
Inzwischen äußern sich auch Bundespolitiker zu dem Berliner Fall: Der religionspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Volker Beck, forderte von der Senatsschulverwaltung Aufklärung über den Fall und sagte: „An dieser Art Alltagsantisemitismus darf man nicht schulterzuckend vorübergehen.“ Beck erklärte, die Politik habe beim Thema Antizionismus zulange weg- oder vorbeigeschaut: „Gerade mit der Verbreitung des Hasses auf Israel wird auch Antisemitismus verbreitet und salonfähig gemacht.“
Die im Berliner Stadtteil Neukölln gegründete Initiative Salaam-Schalom bezeichnete Antisemitismus in Schulen als ein bundesweites Phänomen. So würden viele Kinder und Jugendliche „Jude“ als Schimpfwort einsetzen, ohne Juden oder das Judentum selbst zu kennen, sagte der Koordinator der interkulturellen Initiative, Armin Langer, am Montag.
Langer bestätigte, dass Salaam-Schalom bereits Ende 2016 wegen des Falles um Hilfe gebeten worden sei. Allerdings sei dann auf das Angebot der Initiative nicht eingegangen worden. Salaam-Schalom schickt beispielsweise ein muslimisches und ein jüdisches Mitglied gemeinsam in Schulen.
Auf der Homepage der Friedenauer Schule bewirbt ein Logo die Mitgliedschaft in einem bundesweiten Netzwerk: Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Ersteres stimmt leider nicht, Letzteres muss die Schule nun beweisen.
(mit dpa)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen