Antirassismus heute: Niemand ist ohne Makel
Eine unfertige Betrachtung darüber, was Antirassismus sein kann, woher die allgemeine Unduldsamkeit rührt und was sich daran ändern ließe.
E s gibt diesen Moment, wenn man absichtslos in ein älteres Buch blickt und dann etwas findet, was immer da war, aber nicht gefunden wurde. So erging es mir dieser Tage mit zwei Werken von ikonografischem Rang.
Bei Primo Levi, „Ist das ein Mensch?“, las ich: „Wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe (…)“.
Kurz darauf Albert Camus, „Der Mensch in der Revolte“. Zu jenen, die keinen Begriff von Revolte haben können, schreibt Camus, zähle der „Primitive aus Zentralafrika“.
Zwei großen Humanisten des 20. Jahrhunderts dient die Gestalt eines ihnen unbekannten Wesens aus Afrika als Folie, um Maßstäbe zu entwickeln. Wie geriet ein Völkchen des Regenwalds in die gedankliche Nähe zu Auschwitz? Die Metapher ließe sich bei Primo Levi theoretisch einfach tilgen, ohne dass dies den Inhalt berührte – sie verweist schlicht auf den Umstand, dass Levi, der Überlebende, als italienischer Jude auch ein weißer Europäer war.
Camus hingegen, der in Algerien geborene Franzose, definiert die Revolte gleich so, dass sie ein Merkmal „abendländischen Denkens“ ist, mit Sinn nur in der westlichen Gesellschaft. Er spricht vom Menschen im Allgemeinen, meint aber den Europäer. Ein exkludierender Universalismus, Taschenspielertrick von so vielen in unserem Fundus geachteter Intellektueller.
Wer vors Bücherregal tritt, findet daran heute nur begrenzt noch Halt. Hannah Arendt, die Große, die Kluge: zum Rassismus einiges fragwürdig, mit blind spots gegenüber den Forderungen ihrer schwarzen US-Mitbürger. Und manche Sätze in „Elemente und Ursprünge …“ hätte ich lieber nicht gefunden. Niemand ist ohne Makel.
Charlotte Wiedemann
hat sich als Auslandsreporterin vor allem mit muslimischen Gesellschaften befasst und schreibt Bücher. Zuletzt erschien „Der lange Abschied von der weißen Dominanz“ bei dtv.
Um zu sehen, was man vorher nicht sah, bedarf es bereits des antirassistischen Initialfunkens; doch je mehr man dann sieht, desto schwerer fällt die Antwort, was Antirassismus eigentlich sein kann und wohin eine Dekolonisierung des Denkens führen wird. Weil sich Dimensionen auftun, gegenüber denen die Fragen von Brechts lesendem Arbeiter („Wer baute das siebentorige Theben?“) arg bescheiden wirken.
Welche Fragen heute gestellt werden müssen, umreißt Achille Mbembe so: „Wie kommt es zu den Archiven der Menschheit? Wie kommt es, dass wir etwas wissen? Wofür steht Wissen? Woher wissen wir, dass wir es wissen? Woher wissen wir, dass wir es nicht wissen?“ Bei Mbembe ist die Dekolonisierung schon ins Planetarische getreten. Der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos formuliert es so: keine globale soziale Gerechtigkeit ohne „kognitive Gerechtigkeit“.
Die Architektur von Wissen zu dekonstruieren, Kulturgeschichte neu zu schreiben, das sind Ziele an einem sehr fernen Horizont. Aber sie können helfen, die Richtung zu peilen – und immer wieder die Ahnung zu tanken, um was für ein fantastisches großes Unterfangen es sich handelt, während die kleine graue Gegenwart mit Bahnhofsumbenennungen ringt.
Die Entkolonisierung der Weltbetrachtung ist eine im Wortsinn unendliche Aufgabe. Wird sie vielleicht auch deshalb wenig in Angriff genommen, weil sichtbare Erfolge – weg mit dem XY-Wort – hier kaum zu haben sind? So nötig es ist, Beleidigendes zu entfernen und zu unterlassen: Mit wachsender Sensibilität wirkt ja immer mehr anstößig, auch für jene Weißen, zu denen ich mich zähle. Entsteht daraus unsere Nervosität, auch Unduldsamkeit?
Im Licht stehen die Lauten und Schnellen
Die antirassistische Bewegung wächst, aber unter Bedingungen, die intellektueller Behutsamkeit wenig zuträglich sind. Wer spricht über Camus, wenn sich Rassisten Waffenlager zulegen und über Polizei-Chats funken? Aktivismus folgt eigenen Gesetzen: Aufmerksamkeit gewinnen durch Skandalisierung kann nur gelingen, wenn Ambivalenzen gekappt werden. Und wer attackiert und bedroht wird, braucht einen Schutzgürtel aus Zustimmenden, aber das hat Folgen: Es fehlt an kritischer Spiegelung, an solidarischem Einspruch.
Doch Urteile werden leicht ungerecht, eben weil die Angriffe von rechts und die Antworten darauf (in dieser Reihenfolge) so viel anderes übertönen. Im Licht stehen nur die Lauten. Und die Schnellen. Medien heizen als „Thema der Woche“ durch, wofür eine Lebenszeit nicht ausreicht. Und als ließe sich Zeit für eigenes Denken einsparen, werden Diskurse aus den USA kopiert, mit süffigen Weiß-Schwarz-Konturen. Ja, Blackness-Debatten sind verführerisch. Aber wir müssen schon Eigenes entwickeln, für die diffuseren Verhältnisse in einem Land, das immer auch das Land der Shoah bleibt.
Sosehr Rassismus und Kolonialismus in ihrer Entstehungsgeschichte verwoben sind: Antirassismus und Dekolonisierung sind keineswegs deckungsgleich. Wer gegen Rassismus eintritt, will eine Gesellschaft gleicher Repräsentanz und Chancen – ohne Angst verschieden sein, das zu erreichen, wäre ja schon viel. Dass Dekolonisierung darüber hinausreicht und internationale Machtverteilungen meint, ist etwas aus dem Blick geraten, seitdem jede etablierte Institution ein „Decolonize!“ für die Handtasche macht.
Tatsächlich verlässt hiesiges Sprechen und Schreiben über Rassismus erstaunlich selten den Rahmen westlichen Denkens. Afroamerikaner sind interessant, Afrika ist es eher nicht – oder nur als koloniales Opfer. Um jemanden zu finden, der sich für die Rolle afrikanischer Sprachen im postkolonialen Staat erwärmt, muss ich weit laufen. Muslime beteiligen sich nur marginal an der Debatte, obwohl sie, oszillierend zwischen Opfersein und historischen Täterschaften (Stichwort Sklavenhandel), viel einzubringen hätten.
All dies kann geändert werden. Öffnen wir Räume und Denken – Salon-Antirassismus, das wäre dann kein Schimpfwort.
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