Anonyme Bewerbungsverfahren: Augen zu und weiter
Bewerbungsverfahren sollten anonym sein, sagen Bund und Gewerkschaften. Aber die Benachteiligung beginnt schon lange vorher.
Eigentlich könnte es ja egal sein wer man ist und wie man heißt, wenn man sich für einen Job bewirbt. Ist es aber nicht in diesem Land. Was würde also passieren, wenn Bewerbungen künftig anonym wären? Wenn sie also ohne die Angabe von Name, Alter, Geschlecht, Geburtsort und Foto gesichtet würden? Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) behaupten, „Benachteiligungen beim ersten Schritt im Bewerbungsverfahren“ könnten auf diese Weise minimiert werden. Denn Bewerbungsverfahren seien in Deutschland noch immer nicht überall diskriminierungsfrei.
Bereits 2010 hatte die ADS ein Pilotprojekt gestartet, an dem sich damals fünf Unternehmen beteiligten. Diese verzichteten im ersten Bewerbungsschritt auf bestimmte Angaben, um das Augenmerk auf die Qualifikationen von Bewerber*innen zu lenken. Die Rückmeldungen, hieß es damals, seien positiv gewesen.
In den USA, Kanada oder Belgien sind anonymisierte Bewerbungen schon längst die Norm. Und deutsche Unternehmen, die etwas auf sich halten, machen das ebenfalls schon so. Im Jahr 2006 wurde die Initiative „Charta der Vielfalt“ ins Leben gerufen und ist mittlerweile von über 2.000 Firmen unterschrieben worden, darunter Bosch, Siemens, Bayer oder Adidas. Wirklich bewirkt hat das alles aber nichts. Ist Anonymisierung also das Einzige, was hilft?
Es gibt seit Jahrzehnten unzählige Berichte von Menschen, die gar nicht erst zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden – weil Arbeitgeber*innen Name und Aussehen von Bewerber*innen nicht passen. „Bitte keine Araber“ hatte ein Berliner Architekturbüro kürzlich an einen Bewerber ägyptischer Herkunft verschickt. Versehentlich, wie sie behaupten.
Man muss migrantische Biografien sehen: als Vorteil
Diese Benachteiligung nach Namen beschränkt sich nicht nur auf den Arbeitsmarkt. Beispiel Wohnungssuche: Auch da zeigt sich ein ähnliches Muster. Bewerber*innen mit nicht kartoffeldeutschen Namen werden erst gar nicht zur Besichtigung eingeladen. Die taz berichtete mehrfach über solche Fälle. Wenn die Namen und Bilder also nicht bekannt wären: Problem gelöst. Oder etwa nicht?
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet in Deutschland Diskriminierung auf allen Ebenen des Arbeitslebens. Es gibt nur ein Problem an der Sache: Diskriminierung und struktureller Rassismus beginnen nicht erst bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Sie beginnen früher.
Zum Beispiel wenn es darum geht, auf welche weiterführende Schule Kinder geschickt werden sollen. Wenn sie keine Empfehlung fürs Gymnasium ausgesprochen bekommen – obwohl sie qualifiziert sind. „Du schaffst das nicht“ – diesen Satz haben viele Menschen mit Migrationsbiografien in ihrer Schullaufbahn schon zu hören bekommen. Er ist eine Abfuhr, eine nicht erhaltene Eintrittskarte in die Welt der Privilegierten.
Es ist doch so: In Deutschland wünscht man sich aufstrebende, gut integrierte Migrant*innenkinder, die dieselben Chancen haben sollen wie ihre deutsch-deutschen Mitschüler*innen. Gut, aber dafür muss man ihre Biografien als Bereicherung für diese Gesellschaft ansehen und nicht als Defizit.
Die Illusion der formalen Gleichbehandlung
Wer Bewerbungsverfahren anonymisiert, versucht eine verpasste Chance an der Endstation auszugleichen. Beim Lebenslauf gewinnen meistens die weißen Akademikerkinder, und das wird sich nicht umkehren lassen, indem man Name und Foto aus Bewerbungen entfernt. Die Biografien der Menschen bleiben unverändert, privilegiert sind sie immer noch nicht.
Der Ansatz der Antidiskriminierungsstelle mag in diesem oder jenem Unternehmen sinnvoll sein. Aber er verhindert, dass migrantische Biografien gesehen werden – als ein Vorteil. Und er birgt die Gefahr einer Illusion. Der Illusion von formaler Gleichbehandlung. Eine Maßnahme, hinter der sich Arbeitgeber*innen verstecken können, denn es ist ja alles ganz anonym. Wenn am Ende dann doch nur weiße-deutsche Männer einen Job bekommen haben, na ja. Und an den rassistischen Strukturen hat dann niemand gerüttelt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind