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Annektierte Halbinsel KrimQuelle neuen Unrechts

Anastasia Magasowa
Kommentar von Anastasia Magasowa

Die russische Besetzung der ukrainischen Krim seit 2014 wird von der Weltgemeinschaft achselzuckend hingenommen. Eine Anerkennung hätte fatale Folgen.

Die Russifizierung schreitet voran: Feierstunde zum 11. Jahrestag der Annexion der Krim in diesem Frühjahr Foto: Dmitri Lovetsky /AP/ dpa

I n letzter Zeit ist immer häufiger die Meinung zu hören, dass Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine beenden würde, wenn man ihm alle von Russland annektierten ukrainischen Gebiete überlassen würde. Sogar US-Präsident Donald Trump und sein Umfeld haben bereits mehrfach Signale gesendet, dass die annektierte Krim als russisches Gebiet anerkannt werden könnte. Als Argument dafür wird nicht nur die Absicht angeführt, den russischen Präsidenten auf diese Weise zum Kriegsende zu bewegen, sondern auch russische Propaganda wird übernommen: Die Krim sei schon immer russisch gewesen, dort habe ein Referendum stattgefunden, und dort werde schon immer Russisch gesprochen.

All dies ist jedoch eine Illusion und Wunschdenken. Zudem birgt es die Gefahr, sich mitschuldig zu machen. Die Anerkennung der Krim als russisches Gebiet würde einen Völkerrechtsbruch legalisieren. In moralischer Hinsicht wäre ein solcher Schritt noch schwerwiegender, denn er würde nicht nur Gleichgültigkeit gegenüber dem begangenen Unrecht bedeuten, sondern auch die Beteiligung daran. Straflosigkeit bei Völkerrechtsbrüchen missachtet nicht nur das geltende Recht, sondern ermutigt auch zu neuen Völkerrechts­brüchen.

Hinter der bewaffneten Eroberung und Besetzung ukrainischer Gebiete durch Russland stehen auch Jahre der Unterdrückung, Gewalt und Terror. Das Ausmaß dieser Verbrechen ist der internationalen Gemeinschaft erst in den letzten drei Jahren bewusst geworden. Tatsächlich dauert das Unrecht auf der Krim jedoch seit 2014 an. Die Besatzungsbehörden auf der Krim verletzen die Menschenrechte der Bevölkerung systematisch: Unerwünschte Personen werden willkürlich festgenommen, manche gar gefoltert.

Junge Männer werden für den Dienst in der russischen Armee mobilisiert. Zugleich versuchen die Besatzer, die ethnische Zusammensetzung der Halbinsel gezielt zu verändern, um die ukrainische und krimtatarische Identität auszulöschen. Dies geschieht durch gewaltsame Vertreibungen von Teilen der Bevölkerung und die gezielte Ansiedlung russischer Staatsbürger. Zu den größten Opfern der Besetzung der Krim gehören die Krimtataren, das indigene Volk der Krim.

Zu den größten Opfern der Besetzung der Krim gehören die Krimtataren, das indigene Volk der Krim

Von den 195 politischen Gefangenen aus der Krim, die sich in russischen Gefängnissen befinden, sind 115 Krimtataren. Russische Spezialeinheiten verhafteten sie unter dem Vorwurf des „Extremismus“. Das indigene Volk der Krim leidet unter religiöser Verfolgung durch die russische Besatzung. Sein Selbstverwaltungsorgan, der Medschlis, wurde von Russland als extremistisch eingestuft und verboten. Schulen mit Krimtatarisch als Unterrichtssprache sind nur dort erlaubt, wo die Schulleitung loyal gegenüber der Besatzungsmacht ist. Unter dem Vorwand der „Restaurierung“ werden Kulturdenkmäler zerstört.

Diesen Sonntag gedachte die Ukraine der Opfer der Deportation des krimtatarischen Volks, die 1944 durch die sowjetischen Behörden auf der Halbinsel verübt wurde und als Völkermord einzustufen ist. Innerhalb weniger Tage wurden über 180.000 Krimtataren gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben. Hunderte starben während des wochenlangen Transports in Güterwagen ohne Wasser und Nahrung. Zehntausende starben in den ersten Jahren der Verbannung – vor allem nach Usbekistan – an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten. Nach unterschiedlichen Schätzungen starben bis zur Hälfte aller Krimtataren an den Folgen der Deportation.

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Die Deportation der Krimtataren wurde damals offiziell damit begründet, dass sie mit den deutschen Besatzern kollaboriert hätten – eine Kollektivstrafe. Eine ähnliche Taktik verfolgte Russland, als Wladimir Putin im Jahr 2022 die vollständige Invasion der Ukraine mit der Absicht rechtfertigte, das Land zu „entnazifizieren und entmilitarisieren“, und die Ukrainer des Neonazismus bezichtigte.

Russland, das sich selbst als Nachfolgestaat der UdSSR ansieht, wiederholt die Verbrechen der ­sowjetischen Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine. Das gilt auch für die Krim, wo angeblich 96 Prozent der Bevölkerung in einem Pseudoreferendum die Annexion der Halbinsel durch Russland befürwortet haben sollen. Aus der heutigen Perspektive wird immer deutlicher, wie dreist die russische Propaganda gewesen ist. Doch vor elf Jahren glaubten noch viele Menschen die Lügen des Kremls über die Annexion der Krim. Umso schmerzhafter war für die Bevölkerungsteile, die gegen die russische Besetzung waren, die lasche Reaktion der Weltgemeinschaft auf den eklatanten Völkerrechtsbruch Russlands.

Mittäterschaft durch Zustimmung

Wenn jemand die Krim als russisch anerkennen sollte, stimmt er all dem zu. Das ist Mittäterschaft – Mittäterschaft an der moralischen und physischen Vernichtung von Menschen. Die Krim ist kein abstraktes Gebiet, sondern dahinter stehen konkrete Menschen. Die Besetzung ist keine Übergabe eines Gebiets von einem Staat an einen anderen, sondern ein Völkerrechtsbruch. Genau diese Menschen werden zu Geiseln, und der Völkerrechtsbruch bleibt ungestraft, sobald die Welt „müde“ wird und von „de facto russisch“ spricht.

Die russische Besetzung der Krim ist nicht nur ein Akt der bewaffneten Aggression. Sie ist auch die Quelle weiteren Unrechts. Denn von der Krim aus führt Russland Raketen- und Drohnenangriffe auf die Ukraine durch. Von der Krim aus mobilisiert Russland Soldaten für den Krieg gegen die Ukraine. Die Krim war der Beginn des Kriegs und der Straflosigkeit für Putin.

Wer die Krim als russisch anerkennt, erkennt Macht statt Recht an. Und öffnet die Tür für neue, ähnliche Völkerrechtsbrüche, die sich immer wieder wiederholen würden. Eine solche Anerkennung ist Verrat. Verrat am Völkerrecht. Verrat an der Erinnerung. Und Verrat an all jenen, die für Gerechtigkeit gestorben sind oder ihre Freiheit verloren haben.

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Anastasia Magasowa
Anastasia Rodi (Magazova) ist 1989 auf der Krim (Ukraine) geboren. Studium der ukrainischen Philologie sowie Journalismus in Simferopol (Ukraine). Seit 2013 freie Autorin für die taz. Von 2015 bis 2018 war sie Korrespondentin der Deutschen Welle (DW). Absolventin des Ostkurses 2014 und des Ostkurses plus 2018 des ifp in München. Als Marion-Gräfin-Dönhoff-Stipendiatin 2016 Praktikum beim Flensburger Tageblatt. Stipendiatin des Europäischen Journalisten-Fellowships der FU Berlin (2019-2020) in Berlin. 2023 schloss sie ihr Studium am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin ab. Sie hat einen Master of Arts (Politikwissenschaft). Als Journalistin interessiert sie sich besonders für die Politik in Osteuropa sowie die deutsch-ukrainischen Beziehungen. Von den ersten Tagen der Annexion der Krim bis heute hat sie mehrere hundert Reportagen über den Krieg Russlands gegen die Ukraine geschrieben.
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6 Kommentare

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  • Leider ist die regelbasierte Weltordnung bislang in vielen Punkten - wie schon immer - mehr Wunsch als Realität. Insbesondere fehlt ihr eine durchsetzungsstarke Welt-Staatsgewalt, die die Regeln setzt und gegebenenfalls ihre Einhaltung erzwingt.

    Die "normative Macht des Faktischen" ist daher im Völkerrecht (immer schon) ein wesentlicher Faktor gewesen. Die Ostgrenze Polens, der Status von Tibet oder auch die schiere Existenz von "Einwandererstaaten" wie den USA oder Australien sind nur ein paar der zahlreichen lebendigen Zeugnisse dieser Realität.

    Das gesagt, ist es natürlich völlig ok, bei den Befürwortern einer regelbasierten Weltordnung die Werbetrommel für Konsequenz und aktive Durchsetzung zu rühren. Aber ernsthaft zu erwarten, dass diese Staaten aus Prinzip mit einer "Koste es, was es wolle"-Mentalität an diese Durchsetzung gehen, wäre blauäugig. Dazu sind die nationalen Autarkiebedürfnisse zu groß, und die theoretisch existierenden Bündisse sprechen nicht hinreichend mit einer Stimme - allen voran die UNO.

  • "Straflosigkeit bei Völkerrechtsbrüchen missachtet nicht nur das geltende Recht, sondern ermutigt auch zu neuen Völkerrechts­brüchen."

    Das stimmt natürlich! Deswegen sollte dieses auch verhindert werden.



    Leider muss man in diesem Zusammenhang anmerken, dass wir in den 90ern mit dem Kosovo einen Präzedenzfall geschaffen haben. Den völkerrechtswidrigen Angriff mag man mit viel Kreativität irgendwie noch rechtfertigen können, auch wenn sich nachher herausstellte, dass die zentralen Kriegsgründe sich als unwahr herausstellten (KZs und Hufeisenplan).



    Die völkerrechtswidrige Neugründung eines Staates (übrigens immer noch vielfach nicht anerkannt) war jedoch ein folgenschwerer Fehler. Natürlich kann man jetzt wieder auf die gute Intention verweisen. Jedoch ändert es nichts daran, dass ein rechtlicher Rahmen nur funktioniert, wenn er für alle gilt.

    • @Alexander Schulz:

      Immer wieder diese lachhafte Wiederkäu antiwestlicher Propaganda! Die Balkankriege waren keine Eroberungskriege der Nato, und die Ausreden, um solche Eroberungskriege zu führen (wie Putin sie am laufenden Band absondert), sind auch beileibe nicht erst in den 1990ern erfunden worden.

      Der Überfall auf die Ukraine ist ein klassischer internationaler Raubzug, wie es ihn - mit und ohne vermeintlich "geltendes", entgegenstehendes Völkerrecht - schon unzählige Male in der Geschichte der Moderne gegeben hat. Daher ist der Versuch, ihn immer wieder ausgerechnet mit einem der wenigen Kriege in eine Reihe zu stellen, die genau das NICHT waren, einfach nur offensichtliches - und ziemlich krampfiges - Blame-Game.

      Russland hat historische immer wieder sein Territorium in Handstreichen nach Westen expandiert und erhebt seit lange vor der Oktoberrevolution einen letztlich völkisch (oder teilweise religiös) hergeleiteten Hegemonialanspruch über große Teile Europas. DA liegen die Wurzeln von Putins selbstverständlich gelebter Dreistigkeit, nicht im "Fanal" von Bosnien.

      • @Normalo:

        Und selbst wenn die Eingriffe im zerfallenden Jugoslawien Präzendenzfälle wären:

        Es gibt keine Gleichheit im Unrecht.

  • Man sollte jetzt nicht - isoliert von allen anderen Territorialfragen - einseitig die Zugehörigkeit der Krim zu Russland anerkennen. Man sollte sich aber auch nicht der Illusion hingeben, dass die Krim jemals in den Kiewer Staat zurückkehren wird. Ähnlich wie beim Kosovo lässt sich die Zahnpaste nicht in die Tube zurückdrücken. Eine Lösung ist kurzfristig kaum möglich, längerfristig hoffentlich im Kontext einer umfassenden Regelung der Territorialfragen in einem Friedensprozess. Wie wäre es, wenn die Krim letztlich bei Russland verbleibt, aber unter der Bedingung einer Entmilitarisierung und mit Sevastopol als zivilem Freihafen unter internationaler Kontrolle? - (Kenne die Halbinsel aus früheren Jahren übrigens ganz gut.)

  • "Wer die Krim als russisch anerkennt, erkennt Macht statt Recht an. Und öffnet die Tür für neue, ähnliche Völkerrechtsbrüche, die sich immer wieder wiederholen würden." solange das für die Kopf-in-Sand-steck Fraktion kurzfristig Ruhe bringt ist das schon in Ordnung, ist dann ein zukünftiges Problem.