piwik no script img

Anne Frank als AnimationsfilmFarben der Vergangenheit

Ari Folmans „Wo ist Anne Frank“ führt das Leid aus der NS-Zeit und von heute in einer Zeitreise zusammen. Der kontrastreiche Film ist auch ein Appell.

Jetzt als Anime-Figur: das jüdische Mädchen Anne Frank Foto: Farbfilm Verleih

Es erscheint paradox: Der Mensch, der fähig ist zu fühlen, zu lernen und zu adaptieren, ist oft nicht in der Lage, einen angemessenen Umgang mit anderem menschlichen Leid zu finden. Und das trotz des Bewusstseins einer leidvollen Vergangenheit in der Menschheitsgeschichte.

Im Animationsfilm „Wo ist Anne Frank“ des israelischen Filmregisseurs Ari Folman bekommt diese Paradoxie einen Ausdruck verliehen, mit einer Thematik, die nicht an Aktualität verliert. Der Film beginnt mit dem Tagebuch der Anne Frank und führt von da in die Gegenwart, konfrontiert seine Hauptfigur Kitty mit der Not von Geflüchteten aus Kriegsgebieten.

Im Anne-Frank-Haus, dem berühmten Museum in Amsterdam, erwacht „Kitty“, das Tagebuch von Anne Frank, begleitet von einem leisen Klimpern, zum Leben. Die mit Tinte geschriebenen Buchstaben erheben sich vom Papier aus dem Buch mit dem berühmten rotkarierten Einband. Sie tanzen durch die Luft und formen sich zu der von Anne Frank erschaffenen Fantasiefreundin mit den roten Haaren.

Geflüchtet einst und jetzt

Kitty ist aus der Zeit gefallen. Eben aus der, in der Anne während des Kriegs, im Versteck eines Hinterhauses, ihre Gedanken beim Schreiben ihrer imaginären Freundin anvertraute. Vergeblich beginnt Kitty nach ihrer Freundin zu suchen. Zeitgleich versucht eine geflüchtete Familie draußen zwischen dem Museum und der Gracht bei starkem Unwetter ihren Unterschlupf in Gestalt eines Zelts erfolglos vor dem Wegfliegen zu retten. Im Hintergrund ist eine Schlange von Menschen zu sehen, die für einen Museumsbesuch anstehen. Auf die Idee, der Familie mit ihrem Zelt zu helfen, kommt keiner von ihnen.

Der Film

„Wo ist Anne Frank“: Regie: Ari Folman, Belgien/Frankreich/Niederlande/Luxemburg/Israel 2021, 99 Min.

Die erwachte Kitty bleibt zunächst für die Besucher und Besucherinnen im Museum unsichtbar. Zu sehen ist sie erst dann, wenn sie das Museum mit dem Tagebuch verlässt. Ohne das Buch verliert sie Kraft, ist nicht lebensfähig. Es ist ihr Herz, ihr Puls, ihr Leben. So beschreibt es später im Film ihre neue Bekanntschaft Peter, der als Einziger ihre Identität erkennt und ihr ihre Geschichte glaubt. Sie lernt ihn auf ihrer Suche kennen, es entsteht eine romantische Beziehung.

Flucht aus der Tristesse

Während Kitty Anne sucht, sucht die Stadt Kitty, um das historische Dokument zurückzuerhalten. Vorbei an der Anne-Frank-Schule, Anne-Frank-Brücke und dem Anne-Frank-Theater, braucht es eine Weile, bis die Protagonistin versteht, dass sie in einer anderen Zeit gelandet und Anne, über die Denkmäler hinaus, schon lange nicht mehr physisch anwesend ist. Ihre Suche geht bis nach Bergen-Belsen, den Ort, an dem Anne durch die Nazis ums Leben kam.

Im Film entsteht ein Dialog aus den Sequenzen mit Kittys eigener Geschichte in der Gegenwart und den Sequenzen, in denen die Bilder abtauchen in die Vergangenheit, in der Anne Frank im Hinterhaus versteckt lebte. Besonders kräftig werden die Farben des Films wider Erwarten in der Vergangenheit – in Annes Fantasien, Wahrnehmungen und Träumen. Das Amsterdam der Gegenwart erscheint hingegen vor allem grau und trist.

Der Animationsfilm, der ab sechs Jahren freigegeben ist, folgt auf die gleichnamige Graphic Novel, die Folman zuvor mit der Künstlerin Lena Guberman veröffentlicht hatte. Ihr Ansatz, die Geschichte Anne Franks im Medium Comic zu erzählen, entstand aus dem Gedanken, eine jüngere Generation ansprechen zu wollen. Ari Folman ist selbst in einer Familie von Holocaustüberlebenden aufgewachsen. Seine Eltern kamen in derselben Woche wie die Familie Frank in Auschwitz an. Folman feierte 2008 mit dem Animationsfilm „Waltz with Bashir“ große Erfolge und erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Golden Globe.

Die visuelle Gestaltung ist in „Wo ist Anne Frank“ besonders abwechslungsreich: Während sich die Figuren in einem überwiegend gleichen zeichnerischen Stil fließend durch die Szenen bewegen, fallen die statischen Hintergrundkulissen auf. Die Räume des Hinterhauses wirken ziemlich realistisch, was daher kommt, dass für den Film extra kleine analoge Modelle der Räumlichkeiten nachgebaut wurden.

Durch die neu erschaffene Figur der Kitty entsteht bei Ari Folman eine Schnittstelle der Zeiten und weist auf eine Inkonsequenz hin: das vorhandene Bewusstsein des menschengemachten Leids der Vergangenheit bei gleichzeitig fortwährenden Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten im Umgang mit geflüchteten Menschen heute.

Für die Rettung von Geflüchteten setzt sich Kitty im Verlauf des Films ein. Die Geschichte spannt einen Bogen zwischen diesen zwei verschiedenen Formen menschlichen Leids und ist trotzdem weit davon entfernt, den unmöglichen Versuch zu unternehmen, einen direkten Vergleich anzustellen. Vielmehr ist der Film als Appell zu verstehen, der den Wert eines jeden Menschenlebens erneut bewusst machen möchte und einen gerechten und würdigen Umgang mit Menschen in prekären Lebenssituationen einfordert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen